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Heute sind es zwanzig Jahre;

Freitag nachts, als aus der Oper

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Einsam sie nach Haus gegangen,

Nahm sie auf mich von dem Boden.

Hat mit mir sich in der Kammer
Mutterheimlich eingeschlossen,
Und von den gemalten Wangen

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Liebestränen auf mich flossen.


Da sie sterbend mir dies sagte,
Fragt ich: wer hat mich geboren?
Doch sie konnte mirs nicht sagen,
Ihre Lippe war verschlossen.

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Ihre Blicke, aufgeschlagen,

Sahen nach dem Bild der Nonne,
Und auf ihre bleichen Wangen
Kalte Tränen niederflossen,

Die noch traurig darauf standen

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Als ich ihr das Aug geschlossen;

Und so sind mit ihr mir Armen
Beide Mütter mir gestorben:

Die mich hilflos mußte lassen
Als sie mich zum Licht geboren,

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Die mich treu in ihre Arme

Als ein Kind hat aufgenommen.

Heute nun zum letzten Male
Will ich tanzen in der Oper,
Will ich meine Wangen malen

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Meiner Lehrerin zum Lobe,


In der Künste bunter Flamme

Ihrem Leben noch dies Opfer,
Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_046.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)