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wir besäßen keine Buchstabenschrift, sondern, wie die Azteken, eine reine Bilderschrift. Nehmen wir an, wir wollten den Satz schreiben: „der Soldat trinkt ein Glas Wein“, so würden wir, mit den betreffenden charakteristischen Zeichen, durch die folgenden Bilder eines Soldaten, eines Trinkenden, eines Glases und einer Weinflasche, diesen Gedanken ziemlich deutlich ausdrücken. Ein andrer würde, unbeschadet des allgemeinen Sinnes, unsere Hieroglyphen so lesen dürfen: „Der Krieger schlürft einen Becher Rothspon“. Eine solche Entzifferung würde in der Prosa wenig Schaden anrichten, einem Poeten jedoch, der auf Reime ausgeht, entsetzliche Nachtheile bringen, ja diese Art der Poesie rein unmöglich machen. Könnte nicht einer, wie jener Schildbürger, den folgenden Reimvers

„ich heiße Meister Brand,
und lege den Spieß an die Wand“

auch so lesen:

„ich heiße Meister Brand,
und lege den Spieß an die Mauer“?

Der Sinn ist derselbe, aber mit dem Reime ist es aus. Wie hier helfen? Irgend ein kluger Mann kommt nun auf folgenden sinnreichen Ausweg.

Er wählt aus den Bildern eine begrenzte Zahl aus, denen er unveränderlich ein und denselben Lautwerth giebt, nämlich denjenigen des Wortes, welcher dem durch das Bild bezeichneten Gegenstand in der gesprochenen Sprache zukommt. Also eine Weinflasche wird stets auszusprechen sein Wein; das Bild eines Beines Bein, das eines Auges Aug, das einer Hand Hand u. s. f. Diesen in Repräsentanten der entsprechenden Lautwerthe verwandelten Bildern läßt er andere folgen, welche an sich stumm, den Lautbildern als Hinweis auf die denselben inne wohnende besondere Bedeutung dienen. Also um z. B. den

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Heinrich Brugsch: Ueber Bildung und Entwicklung der Schrift. C. G. Lüderitz’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1868, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brugsch_Bildung_Entwicklung_Schrift_1868.pdf/15&oldid=- (Version vom 31.7.2018)