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Stefan Zweig: Buchmendel – Eine Erzählung

lieb gehabt. In ihm war ich zum erstenmal dem großen Geheimnis nahegekommen, daß alles Besondere und Uebermächtige in unserem Dasein nur geleistet wird durch innere Zusammenfassung, durch eine erhabene und dem Wahnsinn heilig verwandte Monomanie. Daß ein reines Leben im Geist, die völlige Abstraktion in einer einzigen Idee, auch heute noch sich ereignen könne, eine Versenkung nicht geringer als die eines indischen Jogy oder eines mittelalterlichen Mönchs in seiner Zelle, und zwar sich ereignen in einem elektrisch beleuchteten Café neben einer Telephonzelle, dieses Beispiel hatte ich junger Mensch viel mehr als von unseren mitlebenden Dichtern, von diesem vollkommen anonymen kleinen Buchtrödler einmal empfangen. Und doch, ich hatte ihn vergessen können – allerdings in den Jahren des Krieges und in einer der seinen ähnlichen Hingabe an das eigene Werk. Jetzt aber, vor diesem leeren Tische, fühlte ich eine Art Scham vor ihm und eine erneuerte Neugier zugleich.

Denn wo war er hin, was war mit ihm geschehen? Ich rief den Kellner und fragte. Nein, einen Herrn Mendel, bedaure, den kenne er nicht, ein Herr dieses Namens verkehre nicht im Café. Aber vielleicht wisse der Oberkellner Bescheid. Dieser schob seinen Spitzbauch schwerfällig heran, zögerte, dachte nach: Nein, auch ihm sei ein Herr Mendel nicht bekannt. Aber ob ich vielleicht den Herrn Mandl meine, den Herrn Mandl vom Kurzwarengeschäft in der Florianigasse? Ein bitterer Geschmack kam mir auf die Lippen, Geschmack von Vergänglichkeit: wozu lebt man, wenn der Wind hinter unserm Schuh schon die letzte Spur von uns wegträgt? Dreißig Jahre, vierzig vielleicht, hatte ein Mensch in diesen paar Quadratmetern Raum geatmet, gelesen, gedacht, gesprochen, und bloß drei Jahre, vier Jahre mußten hingehen, ein neuer Pharao kommen, und man wußte nichts mehr von Josef, man wußte im Café Gluck nichts mehr von Jakob Mendel, dem Buchmendel! Beinahe zornig fragte ich den Oberkellner, ob ich nicht Herrn Standhartner sprechen könne oder ob nicht sonst wer im Hause sei vom alten Personal? Oh, der Herr Standhartner, o mein Gott, der habe längst das Café verkauft, der sei gestorben, und der alte Oberkellner, der lebe jetzt auf seinem Gütel bei Krems. Nein, niemand sei mehr da … oder doch! Ja doch – die Frau Sporschil sei noch da, die Toilettenfrau. Aber die könne gewiß sich nicht mehr an die einzelnen Gäste erinnern. Ich dachte gleich: einen Jakob Mendel vergißt man nicht, und ließ sie mir kommen.

Empfohlene Zitierweise:
Stefan Zweig: Buchmendel – Eine Erzählung. Österreichische Journal-A.G., Wien 1929, Seite b2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Buchmendel.pdf/19&oldid=- (Version vom 31.7.2018)