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Stefan Zweig: Buchmendel – Eine Erzählung

Tisch in seinem Schreck, ich hab’ es erst später bemerkt und wollt’s ihm noch nachtragen. Aber da war er schon hingestolpert zur Tür. Und weiter auf die Straßen hätt’ ich mich nicht traut, denn an die Tür hat sich Herr Gurtner hingstellt und ihm nachgschrien, daß die Leut’ stehen blieben und zusammengelaufen sind. Ja, eine Schand’ war’s, gschämt hab’ ich mich bis in die unterste Seele! So was hätt’ nicht passieren können bei dem alten Herrn Standhartner, daß man einen ausjagt nur wegen paar Semmeln, bei dem hätt er umsonst essen können noch sein Leben lang. Aber die Leute von heut’, die haben ja kein Herz. Einen wegzutreiben, der über dreißig Jahre wo gesessen ist, Tag für Tag – wirklich, eine Schand’ war’s, und ich möcht’s nicht zu verantworten haben vor dem lieben Gott – ich nicht.“

Ganz aufgeregt war sie geworden, die gute alte Frau, und mit der leidenschaftlichen Geschwätzigkeit der Greise wiederholte sie das immer wieder von der Schand und vom Herrn Standhartner, der zu[1] so was nicht imstande gewesen wäre. So mußte ich sie schließlich mahnen, was denn aus unserm Mendel geworden wäre, und ob sie ihn wieder gesehen. Da besann sie sich und wurde noch erregter. „Jeden Tag, wenn ich vorübergegangen bin an seinem Tisch, jedesmal, das können’s mir glauben, hat’s mir einen Stoß geben. Immer hab’ ich denken müssen, wo mag er jetzt sein, der arme Herr Mendel, und wenn ich gewußt hätte, wo er wohnt, ich wär’ zu ihm hin, etwas Warmes zu bringen, denn wo hätt’ er denn das Geld hernehmen sollen zum Heizen und zum Essen? Und Verwandte hat er auf der Welt, soviel ich weiß, niemanden gehabt. Aber schließlich, wie ich immer und immer nix gehört hab’, da hab’ ich mir schon denkt, es muß vorbei mit ihm sein, und ich würd’ ihn nimmer sehen. Und schon hab’ ich überlegt, ob ich nicht sollt’ eine Messe für ihn lesen lassen, denn ein guter Mensch war er, und man hat sich doch gekannt, mehr als fünfundzwanzig Jahr.

Aber einmal in der Früh, um halb acht Uhr, im Februar, ich putz’ g’rad’ das Messing an die Fensterstangen, auf einmal (ich mein’, mich trifft der Schlag), auf einmal tut sich die Tür auf und hereinkommt der Mendel. Sie wissen ja, immer is er so schief und verwirrt hereingschoben, aber diesmal war’s noch irgendwie anders. Ich merk’ gleich, den reißt’s hin und her, ganz glanzige Augen hat er gehabt und, mein Gott, wie er ausg’seh’n hat, nur Bein und Bart! Sofort kommt’s mir entrisch vor, wie ich ihn so seh’, ich denk mir gleich, der weiß von nichts, der geht am hellichten Tag als ein Schlafeter, der hat alles vergessen, das von damals und die Semmeln und das vom Herrn Gurtner und daß sie ihn hinausgejagt haben, der weiß nichts von sich selber. Gott sei Dank, der Herr Gurtner war noch nicht da, und der Oberkellner hat grad seinen Kaffee trunken. Da spring’ ich rasch hin zu ihm, um ihm zu erklären, er soll nicht dableiben, sich nicht noch einmal hinauswerfen lassen von dem rohen Kerl (und dabei sah sie sich scheu um und korrigierte rasch) – ich mein’, vom Herrn Gurtner. Also, „Herr Mendel!“, ruf ich ihn an. Er starrt auf. Und da in dem Augenblick, mein Gott, schrecklich war das, in dem Augenblick muß er sich an alles erinnert haben, denn er fahrt sofort zusamm und fängt an zu zittern, aber nicht bloß mit die Finger zittert er, nein, als ein Ganzer hat er gescheppert, daß man’s bis an die Schultern gekannt hat, und schon stolpert er wieder rasch auf die Tür zu. Dort ist er dann zusammg’fallen. Wir haben gleich um die Rettungsgesellschaft telephoniert, und die hat ihn weggeführt, fiebrig, wie er war. Am Abend ist er gestorben, Lungenentzündung, hochgradige, hat der Doktor gesagt, und auch, daß er schon damals nichts mehr rechts gewußt hat von sich, wie er noch einmal zu uns kommen ist. Es hat ihn halt hergetrieben als einen Schlafeten. Mein Gott, wenn man sechsunddreißig Jahr einmal wo gesessen ist jeden Tag, dann ist eben so ein Tisch einem sein Zuhaus.“

Wir sprachen noch lange von ihm, die beiden letzten, die diesen sonderbaren Menschen gekannt, ich, dem er als jungem Menschen trotz seiner mikrobenhaft kleinen Existenz die erste Ahnung eines vollkommen umschlossenen Lebens im Geiste gegeben, – sie, die arme, abgeschundene Toilettenfrau, die nie ein Buch gelesen, die diesem Kameraden ihrer untern armen Welt nur verbunden war, weil sie ihm durch fünfundzwanzig Jahre den Mantel gebürstet und die Knöpfe angenäht. Und doch, wir verstanden einander wunderbar gut an seinem alten, verlassenen Tisch in der Gemeinschaft seines heraufbeschworenen Schattens, denn Erinnerung verbindet und zwiefach jede Erinnerung in Liebe. Plötzlich, mitten im Schwatzen, besann sie sich: „Jessus, wie ich vergessig bin – das Buch hab’ ich ja noch, das er damals am Tisch liegen lassen hat. Wo hätt’ ich’s ihm hintragen sollen? Und nachher, wie sich niemand gemeldt hat, nachher hab’ ich g’meint, ich dürft’s mir behalten als Andenken. Nicht wahr, da ist doch nicht Unrecht’s dabei?“ Hastig brachte sie es heran aus ihrem rückwärtigen Verschlag. Und ich hatte Mühe, ein kleines Lächeln zu unterdrücken, denn gerade dem Erschütternden mengt das immer spielfreudige und manchmal ironische Schicksal das Komische gerne boshaft zu. Es war der zweite Band von Hayns „Bibliotheca Germanorum erotica et curiosa“, das jedem Buchsammler wohlbekannte Kompendium galanter Literatur. Gerade dies skabröse Verzeichnis

  1. zu – fehlt in der Vorlage
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Zweig: Buchmendel – Eine Erzählung. Österreichische Journal-A.G., Wien 1929, Seite c1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Buchmendel.pdf/29&oldid=- (Version vom 31.7.2018)