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worden ist, als der Verlust unsers unvergleichlichen Grauns.“ – –

Nun, um die Medaille auf der andern Seite zu besehen! Die Gegenparthey leugnet, daß Graun der Schöpfer seines eignen Geschmacks gewesen; und sagt, er habe ihn nach Vinci gebildet.[H 1] Sie leugnet, daß er jemals prächtig oder donnernd sey, sondern sagen, daß durch alle seine Werke ein gleichschwebender Ton herrsche, der niemals ans Erhabne reiche, ob man gleich öfter das zärtliche Rührende darin antreffe. Sie sind eben so wenig geneigt, ihm grosse Erfindung oder Ursprünglichkeit der Ideen einzuräumen, und stehn in den Gedanken, daß man noch vollkommnere Muster der Kirchenmusik in den Chören von Händel, in den Arien und Duetten von Pergolesi und Jomelli finden könne; eben so wenig will es ihr begreiflich seyn, wie man den Komponisten unnachahmlich nennen[WS 1] könne, der selbst ein Nachahmer ist.[H 2]

Der Concertmeister, Johann Gottlieb Graun, Bruder des vorigen, sagen seine Bewundrer: „war einer der grössesten Violinspieler seiner Zeit, und ganz sicherlich ein Komponist vom ersten Range. Seine Ouvertüren und Sinfonies sind majestätisch, und seine Concerte sind Meisterstücke, besonders die für zwo Violinen, in welchen er die angenehmste Melodie, mit aller Gelehrsamkeit

Anmerkungen (H)

  1. [307] Wie würde es aussehen, wenn Herr B. den Beweiß führen sollte, daß Graun sich nach Vinci gebildet hätte! Der erste Widerspruch ist der, daß Graun seine ersten Opern setzte, da Vinci in Deutschland wohl kaum bekannt war. Sodann ist in seinen Opern nichts Vincisches. Graun ist viel weicher, zärtlicher; Vinci stärker und höher. Graun ist ausführlicher und seine Melodie viel fliessender; Vinci mahlt fast keinen Gedanken aus; Graun nicht selten zu sehr; Grauns Instrumente wirken [308] mit vielmehr Kunst und Ueberlegung mit, Vinci ist sorgloser, obgleich nicht unwirksam. Graun hat schon viel Passagien und Coloraturen; Vinci weniger. Im Recitativ sonderlich zeigt Graun mehr Wissenschaft der Modulation und Deklamation, und modulirt zuweilen, ohne daß die Worte es erfodern, zu kühn. Vinci wird man nicht stark im Recitativ finden. Graun wiederhohlt sich oft, ist sich zu gleich, Vinci ist abwechslender. Vinci liebt kurze Ritornelle, Graun lange. Vinci scheint auf seine accompagnirte Recitative (ausgenommen im letzten Akt der Dido,) wenig zu halten; Graun bringt sie gerne an, und ist glücklich darinn. Und nun vor allem, Vinci in Duetten, Terzetten, Quartetten! welch ein himmelweiter Unterschied. – Diese Vergleichung liesse sich weiter ausdehnen, wenn es gälte; auf Arbeiten beyder Männer über ein Subjekt. – Grosse Erfindung, d.i. reiche, und im Erhabnen, Schrecklichen, Heftigen, könnte man Graum allerdings absprechen; dabey hat er die Trommelbässe bis zum Ueberdruß. Aber wer ihm im Zärtlichen, Sanften, ihm eigenthümliche Gedanken, Rührung, weiches Gefühl und Erfindung abläugnen wollte! – Eilfertige Kritiker können freylich leicht dazu verleitet werden. Sie nehmen eine ganze Oper, (wobey dem Komponisten durch allerley [309] Umstände die Freyheit des Geistes eingeschränkt wurde, und weil er nicht Universalgenie genug war, ihnen in allen und jeden Theilen Genüge zu thun und ein vollkommnes Ganzes zu machen. Ergo – sind die Theile, worin die Poesie einem Genie gemäß war, nicht schön! Es ist doch immer gut um ein klein wenig Philosophie, um dem Geschmack des Gehörs ein wenig zu Hülfe zu kommen.
  2. [309] So Etwas nennt man Petit. Princip.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. statt Vorlage: kennen – Verbessert nach dem Druckfehlerverzeichnis