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noch bis heute und übermorgen, abgezäunt.[1] Moll wird in derselben Absicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauermarsch kann man heute nicht mehr „komponieren“, denn er ist ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildetste Laie weiß, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch – irgendwelcher! – ertönen soll. Selbst der Laie fühlt den Unterschied zwischen einer Dur- und Moll-Sinfonie voraus.


Seltsam, daß man Dur und Moll als Gegensätze empfindet. Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich genügt, eines in das andere zu kehren. Der Übergang vom einen zum zweiten ist unmerklich und mühelos – geschieht er oft und rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu flimmern. Erkennen wir aber, daß Dur und Moll ein doppeldeutiges Ganzes und daß die „vierundzwanzig Tonarten“ nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewußtsein der Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von verwandt und fremd fallen ab – und damit die ganze verwickelte Theorie von Graden und Verhältnissen. Wir haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.


„Einheit der Tonart.“

– „Sie meinen wohl ‚Tonart‘ und ‚Tonarten‘ sind der Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?“

  1. So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben unser Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.