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interessantesten und erfreulichsten praktischen Resultate darbietet.

Es ist bekannt, dass der Ton aller eigentlichen Blasinstrumente, und also auch der Orgelpfeifen, vornehmlich der sogenannten Flötenwerke, durch stärkeres Anblasen steigt, beim Nachlassen der Windstärke aber sinkt; ein Umstand welcher der Ausführbarkeit des Crescendo und Decrescendo auf der Orgel durch abwechselnde Verstärkung und Schwächung des Windes, jederzeit entgegenstund, und auch an der in Frankreich so viel gerühmten Crescendo-Orgel oder orgue expressif noch keineswegs befriedigend beseitigt ist.[1]


  1. Der Uebelstand des Steigens oder Sinkens des Tones bei wechselnder Windstärke soll bei der französischen Crescendo-Orgel hauptsächlich dadurch beseitigt sein, dass der Erfinder derselben, Herr Grenié, statt Zungenpfeifen der früher gewöhnlichen Art, andere, mit frei-schwingenden Zungen, anwendet. Es sei erlaubt, zum leichteren Verständnis der minder Unterrichteten, ein Wort über die betreffende Beschaffenheit der Rohr- oder Zungenpfeifen, und zugleich auch über das Verdienst der Erfindung der freischwingenden, hier einzuschalten.

    Nach der ältern und auch jetzt noch gemeinüblichen Einrichtung, liegt das Blatt der Rohrwerke auf dem sogenannten Mundstücke in eben der Weise auf, wie das Clarinettblatt auf dem Schnabel, d. h. so, dass es, beim Erzittern, unausgesetzt auf den Saum des Schnabels aufschlägt, wodurch der Klang grösstentheils etwas rauh und unangenehm schnarrend und gleichsam schmetternd wird. — Weit vorzüglicher ist eine bis jetzo nur erst wenig übliche Einrichtung, welche darin besteht, dass das Blatt nur so gross gemacht wird, dass es nicht auf den Rand des Mundstückes aufschlagen, sondern, ohne anzustossen, in dessen Oeffnung frei hinein- und herausschwingen kann. Eine nähere Beschreibung findet man in der Leipziger Musikal. Zeitung von 1811, Nr. 9. und eine die Wesenheit der Sache versinnlichende Abbildung bietet auch die nachstehende Kupfertafel dar.

    Diese allerdings höchst vorzügliche Vorrichtung ist aber keineswegs die Erfindung des Franzosen [184] Grenié, sondern vielmehr auch wieder einmal eine, ursprünglich von einem Teutschen gemachte, von mehren Teutschen ausgeführte, aber freilich nie prunkhaft ausposaunte Erfindung, etliche Jahrzehnte später aber von einem Franzosen nacherfunden, und nun, wie billig, — von Franzosen und Teutschen einstimmig, — als »französische Erfindung« ausgerufen.

    Zum Glück besitzt die teutsche Nation über den hier befraglichen Gegenstand unverwerfliche Notizen und Actenstücke, nach welchen, noch ehe der Franzose an seine Erfindung dachte, die Teutschen von diesen freischwingenden Zungenwerken als von einer in Teutschland längst bekannten Sache sprechen. Aus diesen Documenten geht Folgendes hervor:

    Der erste Erfinder war der Teutsche Kratzenstein, welcher in Petersburg, schon unter der Regierung der Kaiserin Katharina, lebte. Nach ihm wendete der teutsche Orgelbauer Rackwiz in Stockholm solche Rohrwerke in Orgeln an. Vogler benutzte sie in seinem Orchestrion, welches er im Jahr 1796 in Stockholm, und nachher bekanntlich, auf seinen vielfältigen Kunstreisen, auch an vielen Orten Teutschlands, und wahrscheinlich auch in Frankreich, hören liess. Nach eben diesem Modell erbauete Leopold Sauer, Instrumentenmacher in Prag, ein grosses Fortepiano mit Saiten- und Pfeifen-Pedal, welches im Pedal 16 Fuss, und durch das ganze Klavier 8 Fuss der neuen Rohrwerke hatte, und sich im J. 1813 im Besitze des Grafen Leopold von Kinsky in Prag befand. Ein zweites Instrument dieser Art verfertigte derselbe Meister im Jahr 1804, und der Orgelbaumeister Ignaz Kober in Wien, im Jahr 1805, eine grosse Orgel in die dortige Schottenkirche, mit mehren solchen Rohrwerken. — Ungefähr um’s Jahr 1807 brachte Vogler an der Orgel in Neuruppin eben solche Rohrwerke an, und zwar von 4 bis zu 32 Fusston; und eben solche Register an dem, von ihm im Residenzschlosse zu Darmstadt aufgestellten Orgelwerke, Mikropan genannt, habe ich selbst noch kürzlich in Händen gehabt.

    Späterhin kam die Sache in teutschen öffentlichen Blättern mehrfältig als eine unter uns Teutschen [185] längst bekannte Vorrichtung zur Sprache. So findet man z. B. schon im Jahrgang 1811 der Leipziger Musik. Zeitung, S. 153 u. ff. eine Ankündigung des Mechanikus Strohmann in Frankenhausen, welcher die Erfindung selbst zwar als schon lange vor ihm dagewesen anerkennt, sich aber das Verdienst beimisst, dieselben nicht für einige Stimmen allein, sondern auch für die tiefsten und die höchsten Töne gleich anwendbar gemacht zu haben. Er äussert dies Letztere sehr bescheiden, und sogar nur zweifelhaft; worauf er denn in Nr. 25 der Mus. Ztg. von 1811 vom Orgelbauer Uthe in Wien, und dann im Jahrgang 1813, S. 115, auch von dem obengenannten Herrn Sauer, belehrt wird, dass diese Register schon, wie vorerwähnt, in den Jahren 1796 bis 1807, in eben solchem Umfang ausgeführt gewesen.

    Nach diesem allen (selbst nach französischen Berichten erst im Jahr 1812,) benutzte Herr Grenié in Paris eben solche Rohrwerke zu seinem sogenannten Orgue expressif, jedoch ohne vorerst auch nur den Versuch eines, in Teutschland schon 20 Jahre früher ausgeführt gewesenen, 16füssigen Registers dieser Art zu wagen. — Er war aber glücklich genug, einen ausgezeichneten Physiker, Herrn Biot, seinen Landsmann, treuherzig glauben zu machen, die Sache sei bis jetzt auch ausserhalb Frankreich unbekannt gewesen, und Biot, Membre de l’académie des Sciences, des Sociétés royales de Londres, d’Edimbourg, des Antiquaires d’Ecosse, de la société Philomatique des Académiciens de Turin, de Munich et de Wilna, sei es nun entweder aus einer nationellen Eigenthümlichkeit, welche alles, was Nichtfranzosen gethan, so gern als gar nicht geschehen betrachtet, — sei es aus wirklicher Unkunde, — stellt in seinem Traité de Physique v. J. 1816 T. 2, p. 171, so wie auch in s. Précis élémentaire de Physique von 1817, im Capitel: Des Instrumens à vent, Unterabtheilung Des Instrumens à Anches, seinen Lesern den Mr. Grenié, habile Amateur de musique, als den Erfinder der freischwingenden Zungen vor, welcher »par une modification aussi simple qu’ingénieuse est parvenu à leur ôter tous ces défauts, et à leur donner en échange des qualités qu’elles n’avoient pas«, (T. I. Pag. 386.) [186] Die Commission de l’Instruction publique erhob darauf, durch ihr Arrèté v. 22. Febr. 1817, Biot’s Précis zum öffentlichen Lehrbuch, und die gesammte liebe Jugend einer grossen Nation lernt nun, von Generation zu Generation den habile amateur de musique Mr. Grenié, als den Erfinder der besagten modification aussi simple qu’ingénieuse gläubig verehren. — Was Wunder, dass demnach auch der Inspector des Königl. Conservatoire de Musique, Mr. Perne, welcher ohne Zweifel ebenfalls nach Biot’s Précis Physik gehört hat, das eingelernte Credo in einem in öffentlichen Blättern abgedruckten Berichte nachbetet, und den Mr. Grenié als denjenigen preist, dem es bis jetzt vorbehalten geblieben, die Akustik durch seine ingeniöse Erfindung zu bereichern, wobei er Biot’s Zeugnis als authentische historische Quelle und wissenschaftliche Autorität anführt. — Im J. 1819 beschenkt Herr Friedr. Wolff, der Weltweisheit Doctor und Professor am Joachimsthal. Gymnasium, die teutschen Physikbeflissenen mit einer Uebersetzung des Biot’schen Précis; und auch dieser Teutsche lässt nicht den entferntesten Unglauben laut werden, so dass nun auch die teutsche Jugend das französische Credo einlernt. — Im Jahr 1821 liefert die Leipziger Mus. Ztg. Nr. 9 und 10 eine Uebersetzung des Perne’schen Berichtes, und dabei eine Notiz über ein, in — China übliches, aus einem ausgehöhlten Kürbis gebildetes Instrument, welches mit der angeblichen Grenié’schen Erfindung einige entfernte Verwandtschaft haben soll. — So bewahren wir (am Ende doch über die Gebühr anspruchlose) Teutsche, sorgfältig sogar den Chinesen die Ehre der, wenn gleich entfernten und rohen, ja problematischen Initiative; dass aber von unsern vaterländischen Künstlern schon ein Paar Jahrzehnte vor den Franzosen die Sache bereits ausgeführt gewesen, ja, dass sie bei uns bereits so gäng und gebe ist, dass jeder teutsche Orgelbauer, bei welchem ein Rohrwerk bestellt wird, dem Besteller alsbald mit der Frage entgegenkommt, ob es mit aufschlagenden, oder mit freischwingenden (einschlagenden) Zungen werden solle, welches letztere den Preis um etwa die Hälfte [187] erhöht — dies alles haben wir kaum einmal zu erwähnen, vielweniger die ausländische Anmasung zu rügen für gut gefunden. — Gut mag es indessen doch sein, vorstehende Notizen hier niederzulegen. —

    Uebrigens stehen Mr. Grenié’s Rohrwerke in einem andern Punkte auch noch weit zurück; denn er begnügt sich, die alte, höchst mangelhafte Einrichtung der sogenannten Stimmkrücken durch grössere Stärke des Drahtes einigermasen zu verbessern, indess man in Teutschland schon längst gelernt hat, solcher Krücken ganz zu entbehren, und dafür die Zungen mittels Stellschrauben unverrückt zu halten. —

    Es wird übrigens aus der nachstehenden Abhandlung des Hrn. Prof. Weber mit mathematischer Gewissheit hervorgehen, dass freischwingende Zungen-Pfeifen keineswegs ohne weiters unbedingt unwandelbar bei Verstärkung oder Schwächung des Windes sind, sondern nur in sofern, als sie nach denenjenigen Gesetzen construirt und compensirt sind, welche Hr. Weber nunmehr entdeckt und in mathematische Formeln gebracht hat; und dass also dasjenige was man von der französischen Crescendo-Orgel gerühmt hat, mathematisch unmöglich ganz wahr sein kann.

    Schliesslich muss ich noch anmerken, dass, gleich nachdem der lobpreisende Artikel des Mr. Perne in der Leipz. allgem. mus. Zeitung Nr. 9. u. 10. v. 1821 abgedruckt erschienen war, ich die obige historische Zusammenstellung, deren Data grossentheils aus früheren Jahrgängen eben dieser Zeitung geschöpft sind, wörtlich so wie ich sie vorstehend gegeben, an die verehrliche Redaction jener Zeitung zur Bekanntmachung eingesendet hatte, die verehrliche Redaction aber, wahrscheinlich um Sich nicht mit dem gelieferten Perne’schen Berichte in Widerspruch zu setzen, die Annahme meines Artikels ablehnte, kurze Zeit darauf aber (in Nr. 10 v. 1823, S. 149) dieselben Notizen, mit einigen Zusätzen des rühmlichst bekannten Herrn Wilke, ihren Lesern doch nicht vorenthielt.
    GW.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Weber: Compensation der Orgelpfeifen. B. Schott’s Söhne, Mainz, Paris, Antwerpen 1829, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Caecilia206-229.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)