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Vorrede zur ersten Auflage.


Ohne die verborgenen Fäden zu kennen, an welche sich die dem Leben und der Wissenschaft zugewachsenen Erwerbungen knüpfen, dürfte es auch dem aufmerksamsten Beobachter nicht gelingen, zum Verständniss der gegenwärtigen Zeit in ihrer materiellen und intellectuellen Gestaltung zu gelangen. Dem gebildeten Menschen ist diese Kenntniss ein Bedürfniss, in so fern sie die erste und wichtigste Bedingung der Entwickelung und Vervollkommnung seines geistigen Lebens in sich schliesst; für ihn ist das Bewusstwerden der Ursachen und Kräfte, die so vielen und reichen Erfolgen zu Grunde liegen, an sich schon Gewinn, weil durch das Geschehene das Bestehende erst klar und das Auge für das Zukünftige empfänglich gemacht wird. Mit ihrer Bekanntschaft nimmt er an der Bewegung Theil, es verliert sich durch sie das anscheinend Zufällige und Räthselhafte der gewonnenen Resultate von selbst, und in dem natürlichsten, nothwendigsten Zusammenhange erscheinen ihm die neuen und gesteigerten Geistesrichtungen der Zeit. Indem er Besitz von den ihm gebotenen geistigen Gütern nimmt, erwächst ihm der Vortheil, sie nach seinem Willen und Vermögen zu seinem Nutzen zu verwenden, zur Vermehrung dieser Reichthümer beitragen, ihre Segnungen zu verbreiten und fruchtbringend für Andere zu machen.

Von diesem Gesichtspunkte aus sind die chemischen Briefe verfasst; sie haben den Zweck, die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt auf den Zustand und die Bedeutung der Chemie, auf die Aufgaben, mit deren Lösung sich die Chemiker beschäftigen, und den Antheil zu lenken, den diese Wissenschaft an den Fortschritten der Industrie Mechanik, Physik, Agricultur und Physiologie genommen hat.

Diese Briefe sind, im Sinne des Wortes, für die gebildete Welt geschrieben, welche vor der Erörterung der wichtigsten und schwierigsten Fragen in der Wissenschaft, in so fern sie einflussreich für den weiteren Fortschritt und die Anwendungen sind, nicht zurückzuschrecken gewohnt ist, für eine Classe von Lesern, die an einer sogenannten populären Form der Darstellung, womit man gewöhnlich das Herabziehen in das Gemeine und das platte Verständlichmachen

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite VII. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_p_005.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)