Seite:Christliche Symbolik (Menzel) II 087.jpg

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Nach Erörterung dieser Gegensätze wird sich das Marienideal der christlichen Kunst deutlich genug herausstellen als die Verbindung einerseits des Jungfräulichen mit dem Mütterlichen, andrerseits des Königlichen und der übermenschlichen Hoheit mit dem Magdlichen und der tiefsten menschlichen Demuth, so zwar, dass keine dieser Eigenschaften ausschliesslich und einseitig vorwaltet, sondern immer auch die andre durchblicken lässt. Die ältesten uns erhaltenen Bilder geben nur den edlen Typus des Gesichtsovals, schöne und regelmässige Formen bei heiligem Ausdruck, in einer gewissen Allgemeinheit an. Seit vier Jahrhunderten strebt dagegen die Kunst mehr nach Individualisirung.

Gleichwie man unter den Christusbildern hauptsächlich Salvator- und Vesperbilder unterscheidet, von denen die ersten mehr die göttliche, die andern mehr die menschliche Natur des Erlösers zur Anschauung bringen, so kann man auch die Marienbilder in zwei Hauptordnungen eintheilen, sofern die morgenländischen überall mehr die Himmelskönigin hervortreten lassen, dagegen im Abendlande sich seit den letzten vier Jahrhunderten eine Neigung geltend machte, die menschliche Mutter theils in ihrer Freude und Zärtlichkeit, pflegend das heilige Kind, ja selbst spielend mit dem Kinde, theils in ihrem Schmerz als mater dolorosa und betrübte Wittwe darzustellen. Die morgenländische Kirche hielt immer ein heiliges Ideal fest, in der abendländischen Welt riss sich die Kunst von dem Anspruch der Kirche auf Heiligkeit häufig in dem Grade los, dass Maria auf Bildern wie ein gemeines Weib, in der Freude nur irdisch lieblich, im Schmerz sogar hässlich aufgefasst wurde.

In einem Aufsatz über die Bildmalerei der russischen Kirche im Januarheft des Journals für Volksaufklärung vom Jahre 1845, mitgetheilt in August von Haxthausens Studien über Russland III. S. 102, wird die alte Malerei der griechischen Kirche vorzugsweise die theologische, die neuere und freiere Malerei der abendländischen Kirche aber die philosophische genannt und hervorgehoben, wie in jener sich der

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Zweiter Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_II_087.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2022)