Seite:Christliche Symbolik (Menzel) I 428.jpg

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vorlag und zweitens der Erhaltungstrieb und die Furcht das Unsittliche entschuldigen konnten. Beide Brüder befanden sich im Naturstande. Nun wollte aber Gott die dem Geis zugewandte und für das Höhere empfängliche Seite der Menschheit nicht in einem so kläglichen Kampfe beharren lassen, sondern erhob Jakob auf eine höhere Stufe durch göttliche Gnade, verlieh ihm eine Einsicht in's Heilige (der Traum von der Himmelsleiter) und eine sittliche Kraft, die ihn fortan über gemeine List stellte.

Das ist das berühmte, oft so leichtsinnig und abstrakt erklärte Ringen Jakobs mit Gott. Jakob fürchtete sich entsetzlich vor seinem Bruder, hatte ihm Geschenke entgegengeschickt, aber, dennoch nicht trauend, seine Weiber und Kinder vor ihm verborgen. In derselben Nacht nun rang ein unbekannter Mann mit ihm, der ihn nicht überwinden konnte, ihm aber das Gelenk an der Hüfte verrenkte, dass er zeitlebens davon hinken musste. Als der Tag graute, sagte der Mann: „Lass mich gehen.“ Jakob aber sagte: „Nicht eher, bis du mich segnest.“ Da sagte Jener: „Du hast mit Gott und mit Menschen gerungen und gesiegt, darum sollst du künftig Israel heissen.“ Darauf wurde Jakob wieder getrost, zog am andern Morgen seinem Bruder freiwillig entgegen und wurde auf's Liebevollste von ihm aufgenommen.

Das Ringen mit Gott war die hohe sittliche Weihe des Geistes, der auf niederer Stufe noch in den Banden der Natur nur zwischen List und Angst getheilt war, jetzt aber seiner höhern, der Natur weit überlegenen Macht durch Gottes gnädige Herablassung inne wurde. Das fühlte der Prophet Hosea 12, 4. 5. wohl heraus, indem er hervorhob, Jakob, der immer demüthig geblieben und sich nie überhoben, auch Gott nie getrotzt habe, sey eben deswegen der Stärkste gewesen, das habe er schon bei seiner Geburt gezeigt, indem er seinen älteren Bruder bei der Ferse gehalten habe; am deutlichsten aber habe es sich offenbart in dem siegreichen Ringen mit Gott selbst, gerade in dem Augenblicke seines

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Erster Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_I_428.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)