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rufen aus: „So bist auch du gefallen, die uns Alle fällte, und geht dir nun, wie uns Allen?“

Der Zorn Gottes ruht nicht, bis Alle vertilgt sind, die sich wider ihn aufgelehnt. Aber der Zürnende erbarmt sich wieder. Den Uebergang vom Grimm zur Gnade bildet ein überaus schönes Doppelgleichniss. Kapitel 29 Vers 8 heisst es, die Heiden, die wider Jerusalem stritten und wirklich Jerusalem überwältigten, werden plötzlich alle diese sichern Erfolge wieder verlieren, und es wird seyn, als hätte ein Durstiger zu trinken nur geträumt, die Wirklichkeit wird zum Schein werden. Dagegen heisst es Kap. 35 Vers 7 weiter, das Volk Gottes verschmachtete in der Wüste und sah vor sich den täuschenden Schein des Wassers, das seinen Durst nicht stillen konnte, weil es nur die Luftspiegelung, Serab (die Fata Morgana) war. Aber siehe, plötzlich quillt es lebendig und wahres Wasser füllt die Wüste an. Der Schein wird Wirklichkeit. Also ist, was die Sinne greifen, dennoch nur Schein, sofern es nicht aus Gott ist; und was ein leeres Gedankenbild scheint, weniger noch als ein Schatten, wird volle Wirklichkeit, wenn es aus Gott ist. Ein ungemein geistreicher Gegensatz, auf den noch kein Commentator aufmerksam gemacht hat, denn man hatte zu viel mit den Worten zu thun, um den Geist zu suchen.

Nun erklärt sich, wie die Visionen des Propheten in der Zeit des tiefsten Elends, des allgemeinen Untergangs eine grosse Hoffnung zu beleben vermögen. Was ihr jetzt unter dem Schrecken einer hoffnungslosen Wirklichkeit für eitlen Traum haltet, es wird dennoch wirklich werden.

Das tiefste Motiv, aus dem der Prophet diese glückliche Wendung erklärt, ist die Gnade Gottes. Die Hauptstelle ist Kap. 49 Vers 15: Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? und ob sie denselbigen vergässe, so will Ich doch deiner nicht vergessen. In demselben Sinne heisst es Kap. 9 Vers 10: Nach der allgemeinen Zerstörung wird Gott wieder bauen, und wenn eure Ziegelsteine zerstört sind, wird er

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Erster Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_I_440.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)