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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

amentia occulta (E. Platner Quaestion. medic. forens. I. II. Lips. 1797) von ausserordentlichem Antriebe zu einer Handlung oder durch gebundenen Vorsatz (Hofbauers psycholog. Rechtspflege S. 315 und 327) von Hemmung der moralischen, freien Kraft durch Ausartung thierischer Triebe (Grohmann in Nasses Zeitschrift für psychische Aerzte I. 501), trotz aller neuern Verhandlungen über diesen Gegenstand, noch keineswegs im Reinen ist, sondern im hohen Grade einer strengen Revision bedarf, und daß, wenn auf der einen Seite der Eifer einzelner Schriftsteller und medicinischer Collegien Entschuldigungsgründe für Handlungen aufzufinden, die im Sturme eines von ungewöhnlichen Veranlassungen bewegten Gemüths, oder im Drange eines instinktartigen, von den Banden der Natur umstrickten Willens begangen worden, höchst achtungswerth ist, dennoch auf der andern Seite auch die Verwirrung und der Nachtheil berücksichtiget werden muß, der aus der unvorsichtigen Anwendung dieser Lehre entstehen würde, wenn man fortfahren sollte, wie man bereits angefangen hat, einen Mordtrieb, eine Feuerlust, eine Rauflust, einen Stehltrieb und am Ende für jedes Verbrechen einen besondern Trieb oder einen instinktartigen Zwang, eine Notwendigkeit des Handelns, anzunehmen, hierdurch aber die Wirkung der Gesetze zu lähmen und die gerichtliche Medicin um ihr wohlverdientes Ansehen zu bringen. Ob ich daher gleich mich in eine weitere Erörterung über diesen schwierigen Gegenstand hier nicht einlassen darf, so halte ich es doch für nothwendig und zweckmäßig, der Grundsätze, die mich bei Beurtheilung des gegenwärtigen (und ähnlicher) Fälle geleitet haben, kürzlich anzugeben. Es darf nämlich, nach meiner Ueberzeugung, ein blinder Antrieb zu verbrecherischen Handlungen nur in den Fällen angenommen und zu deren Entschuldigung benutzt werden, wenn

1) entweder das Alter des Individuums einen vollständigen Gebrauch des Verstandes noch nicht zuläßt;

2) oder Entwicklungsperioden, z. B. die der Mannbarkeit und andere körperliche Ereignisse im Spiele sind, die ihrer Natur und der Erfahrung nach öfters mit unklaren Vorstellungen, Verworrenheit des Bewußtseyns und instinktartigen Handlungen verbunden zu seyn pflegen, z. B. unmittelbar vorhergegangene Niederkunft;

3) oder bei erweislicher Uebermacht ungewöhnlicher und individueller, körperlicher oder geistiger Anreizungen die gewöhnlichen egoistischen Motive zu einer Handlung fehlen, z. B. wenn ein Hypochondrist oder ein Schwärmer einen Mord begeht, um hingerichtet zu werden und desto seliger zu sterben.

Dieses vorausgesetzt erinnere ich:

ad a) daß Unmuth, Unzufriedenheit mit sich selbst, Argwohn, Mißtrauen und Bitterkeit gegen andere, Reizbarkeit zum Ausbruche eines ungerechten Zorns auf leichte Veranlaßungen u. s. w. bei Personen, die

Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 528. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_528.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)