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Wilhelm Löhe: Vom Schmuck der heiligen Orte, Dictat aus den Jahren 1857/58, abgedruckt im „Correspondenzblatt der Diaconissen von Neuendettelsau“ 1859/60

man muß sitzen, stehen und knien können. Die übrige Einrichtung der Stühle ist von keinem großen Belang. Man hat die Wangen der Stühle, die sich auf den Gang im Schiff zuwenden, gerne verziert, aber es läßt sich da keine große Zier anbringen; namentlich ist es unschicklich, in so geringer Höhe von dem Boden die Kreuzesblume anzubringen. Eine gewöhnliche Blume oder eine gewöhnliche gothische Verzierung passt eher. Was den Anstrich anlangt, so gebe man entweder gar keinen, bloß Firniß oder Oel, oder man wähle eine dunkle und unverwüstliche Farbe.

 Der Boden der Kirche, sonderlich der im Chor und in der s. g. Vierung, wird gerne mit Matten und Teppichen belegt; es ist das nicht bloß eine schöne Zier, sondern auch eine Erleichterung für das Knieen, wenn man nemlich frei niederknieen muß. Da vom Schmucke der Kirchen die Rede ist, so muß, wenigstens als auf ein ferneres Ziel weiblich kirchlicher Bemühung auf diese Teppiche hingewiesen werden und auf die Binsenmatten. Es ist das wenigstens immer noch ein näheres Ziel als die Teppiche für die Wände, welche das Altertum gebrauchte.

(Fortsetzung folgt.)

Von der Barmherzigkeit.
(Fortsetzung.)
II. Kapitel.

Wie hat der HErr dein Gott im alten Testamente die Barmherzigkeit geübt?

§. 7.

 Der HErr dein Gott hat seit den Zeiten des Falls die ganze Menschheit wunderbar geführt; denn in der That, ich weiß kein größeres Wunder, als die Vereinigung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in der Geschichte der Menschheit. Dies Wunder erweist sich in den Zeiten des alten Testaments, wie in denen des neuen: und wer die einzelnen Perioden und Höhenpunkte der Geschichte vor und nach Christo mit hellem Auge betrachtet, der wird finden, daß sie eben so viele Perioden und Höhenpunkte dieser wunderbaren Vereinigung scheinbar widersprechender, göttlicher Tugenden sind. Billig malt daher die Kirche vor das große Geschichtsbuch Gottes Mosen mit dem Gesetze und unsern HErrn am Kreuz. Ist aber die ganze Geschichte ein fortgehendes Zeugnis von der Vereinigung der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, so ist sie auch offenbar ein fortlaufend Zeugnis von der Barmherzigkeit alleine, und das um so viel mehr, weil sich in allen Perioden und auf allen Höhepunkten der Geschichte die Barmherzigkeit nicht bloß vereinigt mit der Gerechtigkeit, sondern großen Ruhm vor ihr behält. „Die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht.“

§. 8.

 Durch des Teufels Neid fällt der Mensch: da vereinigt sich die göttliche Gerechtigkeit mit der göttlichen Barmherzigkeit, und beide zusammen jagen ihn aus dem Paradiese, auf daß er gestraft sei für seine Missethat (spricht die Gerechtigkeit), und nicht eße vom Baume des Lebens und ewiglich lebe in seinem Elende (spricht die Barmherzigkeit). Vor dem Paradiese lagern sich der Cherub und die hauenden Schwerter, denn so heißt es. Der Cherub ist der Thronengel Gottes, wo er ist, ist Gott noch nicht gewichen; noch will Gott barmherzig auf Erden wohnen; die Schwerter aber verwehren den Zugang zum Baume des Lebens. So ist auch nach dem Fall, in der Zwischenzeit zwischen ihm und der großen Flut, die Vereinigung der beiden großen, göttlichen Tugenden, die wir nannten, geschäftig, des HErrn Werk zu treiben. Gottes Gerechtigkeit jagt den Brudermörder aus Eden, seine Barmherzigkeit aber bezeichnet ihm die Stirne, daß ihn nicht schlage, wer ihn finde. Gottes Gerechtigkeit bereitet die Sintflut, Gottes Barmherzigkeit schafft Frist zur Bekehrung 120 Jahre. Als die Sintflut hereinbricht, ersäuft die Gerechtigkeit die ganze Welt, aber die Barmherzigkeit trägt Noah selbachte sicher und friedlich durch die ungeheuere Flut bis zum Ararat und reicht ihm dort durch die Taube das Oelblatt der Schonung. Da habt ihr, lieben Kinder, einen Katechismus der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit für die erste Periode der Welt, eine Anleitung, der Sache noch weiter nachzugehen und die beiden göttlichen Tugenden in derselben Periode noch öfter zu finden.

§. 9.

 Die Menschheit wächst nach der Sintflut in gewaltigen Progressionen durch die göttliche Barmherzigkeit, und dieselbige Barmherzigkeit erhält das Lichtlein patriarchalischer Erkenntnis unter dem sich mehrenden Haufen; aber sieh, die Gerechtigkeit erhebt sich, die Menschheit um deswillen zu strafen, daß sie dem Lichte nicht folgt und sich eigene Wege eröffnet und ein eigenes Licht entzünden will für die zukünftige Geschichte. Rasch vereinigt sich mit ihr die Barmherzigkeit, und beide zusammen bewirken das unerhörte Wunder der Sprachverwirrung. Die Einigkeit der Menschen zum Bösen wird gerechtermaßen gestraft durch die Verwirrung der Sprachen, mit welcher eine Verschiedenheit der Nationalitäten und der Religionen zusammengeht. Doch ist die Strafe temperiert durch Barmherzigkeit, weil Uneinigkeit im Bösen jedenfalls beßer ist, als Einigkeit, und der göttlichen Wahrheit mehr Pforten offen läßt, als diese. So geht auch in der ersten Patriarchenzeit nach der Sintflut Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammen.

§. 10.

 Gott läßt nach seiner Gerechtigkeit den Menschen, die ihn fliehen, ihren eignen Willen, läßt sie ihre Wege gehen, ob sie ihn fühlen und finden möchten: schaurige Nachgiebigkeit des Allerhöchsten gegen die verderbte Creatur! Aber siehe, zugleich tritt herein die göttliche Barmherzigkeit und legt in Abraham einen Keim zu dem Baume, der wie ein Senfkorn anfangen, aber wachsen soll und werden zum grösten Baume, unter dem sich alle die entlaßenen und sich selbst überlaßenen, daher verlaßenen Völker wieder sammeln können und finden denjenigen, der Adam unter den Bäumen im Garten suchte und die verlorene Menschheit

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Vom Schmuck der heiligen Orte, Dictat aus den Jahren 1857/58, abgedruckt im „Correspondenzblatt der Diaconissen von Neuendettelsau“ 1859/60. Druck in Commission der C. H. Beck’schen Buchhandlung, Nördlingen 1859, 1960, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Correspondenzblatt_der_Diaconissen_von_Neuendettelsau_Bd02_1859.pdf/25&oldid=- (Version vom 4.9.2016)