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KUNST UND RELIGION


Hegel behandelt die Kunst vor der Religion; diese Stellung gebührt ihr, sie gebührt ihr sogar unter dem geschichtlichen Gesichtspunkte. Sobald die Ahnung erwacht, dass der Mensch in sich selbst ein Jenseits habe, d. h. dass er im thierischen und natürlichen Zustande sich nicht genüge, sondern ein anderer werden müsse (und für den gegenwärtigen Menschen ist doch wohl der andere, der er werden soll, ein zukünftiger, der erst jenseits seines dermaligen Befindens erwartet werden muss, — ein jenseitiger: so ist ja der Jüngling die Zukunft und das Jenseits des Knaben, in welches er erst hineinwachsen muss, und so ist der sittliche Mensch das Jenseits des bloss — unschuldigen Kindes): sobald jene Ahnung in dem Menschen erwacht und er darauf hindrängt, sich zu theilen und zu entzweien in das, was er ist, und das, was er werden soll, so strebt er sehnsüchtig nach dem letzteren, nach diesem zweiten und anderen Menschen, und rastet nicht eher, als bis er die Gestalt dieses jenseitigen Menschen vor sich sieht. Lange wogt es in ihm hin und her; er fühlt nur, dass sich eine Lichtgestalt in der Finsterniss seines Innern erheben wolle, aber die sicheren Contouren und die feste Form fehlen ihr noch. Mit dem im Dunkel ungewiss tappenden Volke tappt auch der künstlerische Genius eine Zeit lang nach dem Bilde ihrer Ahnung suchend umher; was aber Keinem gelingt, ihm gelingt es: er gibt der Ahnung Form,

Empfohlene Zitierweise:
Max Stirner: Kunst und Religion aus Max Stirner's Kleinere Schriften und Entgegnungen. Berlin 1914, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Stirner_Schriften_258.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)