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„Ist denn nicht aber die Liebe das eigenste Wesen der Religion, sie, die doch ganz eine Sache des Gefühls und nicht des Verstandes ist?“ Wenn sie eine Herzenssache ist, muss sie darum weniger eine Verstandessache sein? Eine Herzenssache ist sie, wenn sie mein ganzes Herz einnimmt; das schliesst nicht aus, dass sie auch meinen ganzen Verstand einnehme, und macht sie überhaupt zu nichts besonders Gutem: denn der Hass und Neid kann auch Herzenssache sein. Die Liebe ist in der That nur eine Verstandessache, wobei sie übrigens in ihrem Titel als Herzenssache unbeschädigt bleibt: eine Sache der Vernunft ist sie nicht, denn im Reiche der Vernunft gibt’s eben so wenig eine Liebe, als im Himmel, nach Christi bekanntem Worte, gefreit wird. Allerdings lässt sich von einer „unverständigen“ Liebe sprechen. Sie ist entweder so unverständig, dass sie werthlos und nichts weniger als Liebe ist, wie manches Vergaffen in ein hübsches Gesicht oft schon Liebe genannt wird, oder sie erscheint nur zur Zeit noch ohne ausdrücklichen Verstand, kann aber zum Ausdruck desselben kommen. So ist die Kindesliebe zunächst zwar nur an sich verständig ohne bewusste Einsicht, allein nichts desto weniger von vornherein Verstandessache, weil sie nur so weit geht, als der — Verstand des Kindes, und mit ihm zugleich entsteht und wächst. So lange das Kind noch keine Zeichen von Verstand gibt, zeigt es auch — wie Jedem die Erfahrung gelehrt haben kann — noch keine Liebe: es benimmt sich als blosses Gefühlswesen und fühlt eben darum noch nichts von Liebe. In dem Maasse erst, als es die Objecte — wozu ja auch die Menschen gehören — sondert, schliesst es sich an einen Menschen mehr an, als an den andern, und mit seiner Furcht — oder, wenn man es so nennen will, seinem Respekte — beginnt seine Liebe. Das Kind liebt, weil es von einem Gegenstande oder Objecte, also von einem Menschen, in dessen Machtbereich oder Zauberkreis gezogen

Empfohlene Zitierweise:
Max Stirner: Kunst und Religion aus Max Stirner's Kleinere Schriften und Entgegnungen. Berlin 1914, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Stirner_Schriften_262.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)