Seite:DE Stirner Schriften 263.jpg

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wird: es versteht das mütterliche Wesen seiner Mutter wohl von anderem Wesen zu unterscheiden, wenn es sich darüber auch noch nicht verständig auszusprechen weiss. Vor jenem Verständniss liebt kein Kind, und seine hingebendste Liebe ist nichts als — das innigste Verständniss. Wer Kindesliebe sinnig beobachtet hat, dem wird die Erfahrung diesen Satz bestätigen. Aber nicht bloss Kindesliebe steigt und sinkt mit dem Verständniss des „Gegenstandes“ (so hört man ja oft, wenn auch ungeschickt, doch sehr bezeichnend die Geliebten nennen), sondern jede Liebe. Tritt ein Missverständniss ein, so verliert die Liebe während seiner Dauer mehr oder weniger, und man braucht sogar das Wort Missverständniss geradezu für Misshelligkeit, womit eine Störung der Liebe bezeichnet wird. Die Liebe ist unhaltbar und unwiederbringlich verloren, wenn man sich in einem Menschen vollständig getäuscht hat: das Missverständniss ist dann vollkommen und die Liebe erloschen.

Der Liebe ist ein Object, ein „Gegenstand“ unentbehrlich. Dieselbe Bewandtniss hat es mit dem Verstande, der eben darum die eigentliche und einzige Geistesthätigkeit des Religiösen ist, weil dieser nur Gedanken über und an ein Object hat, nur Betrachtungen und Andacht, nicht freie, objectlose, „vernünftige“ Gedanken, welche letzteren er vielmehr für „philosophische Hirngespinnste“ ansieht und verurtheilt. Ist aber dem Verstande ein Object nothwendig, so hört seine Wirksamkeit immer da auf, wo er ein Object so ausgenossen hat, dass er nichts mehr daran zu thun findet und damit fertig ist. Mit seiner Thätigkeit erlischt sein Antheil an der Sache, weil, soll er sich liebend hingeben und ihr alle Kräfte widmen, sie ihm ein — Mysterium sein muss. Auch hierin ergeht’s ihm, wie der Liebe. Eine Ehe ist nur dann unvergänglicher Liebe versichert, wenn die Gatten sich täglich neu erscheinen, und jeder in dem andern einen unerschöpflichen

Empfohlene Zitierweise:
Max Stirner: Kunst und Religion aus Max Stirner's Kleinere Schriften und Entgegnungen. Berlin 1914, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Stirner_Schriften_263.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)