Seite:DE Stirner Schriften 282.jpg

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das Gewerbe eines Freudenmädchens zu ergreifen. Noch unergriffen von der Lust an dieser Lebensweise, wird sie befleckt, ohne sich selbst zu beflecken: sie ist unbetheiligt und noch keine Sklavin der Begierde, die ihrem Stande erst die rechte Bekräftigung geben würde. So findet sie Rudolph, und was das Laster an ihr nicht zu leisten vermocht hatte, das versucht jetzt die Tugend: sie versucht das arme Kind, das eine Beute des Lasters zu werden droht, zur Tugend zu führen. Rudolph bietet alle Versprechungen und Verlockungen auf, durch die er die leicht erregbare Phantasie des Mädchens zu bestechen hoffen darf. Sie, die mitten in einem taumelnden Lasterleben nicht „gefallen“ war, sie widersteht den einschmeichelnden Verheissungen des Tugendwerbers nicht und — fällt. Doch möchte sie immerhin fallen, wenn sie sich nur wieder erhöbe. Wie aber soll ein E. Sue, der Dichter des tugendreichen und liberalen Bürgerwesens, sie zu einer weiteren Erhebung kommen lassen? Ist sie nicht gerettet, wenn sie in den Schooss der allein seligmachenden Sittlichkeit sich geflüchtet hat? Meint man etwa, sie sollte sich zur Frömmigkeit erheben, so geschieht das ja in vollem Maasse, wie denn wahre Sittlichkeit und wahre Frömmigkeit sich niemals ganz von einander trennen lassen; denn selbst diejenigen Sittlichen, welche den persönlichen Gott leugnen, behalten ja am Guten, am Wahren, an der Tugend ihren Gott und ihre Göttin.

Doch ich meine nicht, dass Marie nach jenem Falle sich zur Frömmigkeit erheben sollte; ich meine nur, dass, wenn es etwas Werthvolleres gäbe, als Sittlichkeit und Frömmigkeit, unser Dichter davon nichts wissen könnte, weil es nicht in seinem Gedankenkreise liegt, und seine Personen sich nie dazu erheben könnten, weil die Besten darunter doch nicht besser zu sein vermögen, als ihr Schöpfer. Marie, die von Rudolph für den Dienst der Sittlichkeit angeworben wurde, wird darin fortan in Treue