Seite:DE Stirner Schriften 285.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

was sie verbrochen? Sie könnte es gestehen, aber dann wäre sie auch „gerichtet.“ Die Welt des Guten könnte nicht bestehen, wenn sie nicht „Güter“ hätte, und unter diesen Gütern ist die Keuschheit ein Gut, dessen Einbusse sie keinem — Weibe verzeiht. Eine nachfolgende dauernde Züchtigkeit kann die ursprünglich, der sittlichen Ehre geschlagene Wunde vernarben lassen, aber den Schandfleck der Narbe wäscht keine Zeit ab. Die Welt, welche an die Sittlichkeit und ihre Güter glaubt, kann — nicht vergessen; für sie haben diese Güter einen Werth, und sie mag es anstellen, wie sie will, die Empfindung eines Mangels und Gebrechens kann sie da, wo eines dieser Güter, an denen ihr Wahn klebt, verloren gegangen ist, nicht gänzlich unterdrücken. Ein Weib, das seine Keuschheit preisgegeben, das unter dem „Auswurf der Gesellschaft“ gelebt, das sich „entwürdigt“ hat, wird für alle Zeit scheel angesehen werden; denn es ist „befleckt, vergiftet, berührt von Schändlichkeiten,“ es ist — „geschändet.“ Und für die zugezogene Schande fordert die Welt als Busse eine unausgesetzte Scham, eine Scham, die sie stets in der Büsserin wach zu erhalten beflissen sein wird.

Vielleicht meint man aber, es sei das nur eine Ueberspanntheit und falsche Scham, die jeder nicht zu reizbare Mensch leicht überwinden würde. Wir müssen aber doch fragen, was in dem sittlichen Urtheil der Welt denn eigentlich Geltung habe, ob der Mensch als solcher oder — seine Güter. Es ist nicht ohne den innigsten Zusammenhang, dass gerade die Zeit des Liberalismus und der Bourgeoisie so viel auf Sittlichkeit hält: ein Banquier und ein Sittlicher beurtheilen den Menschen aus ein und demselben Gesichtspunkte, nämlich nicht nach dem, was er durch sich ist, sondern nach dem, was er durch seinen Besitz ist. „Hat er Geld?“ Mit dieser Frage läuft die andere parallel: „Hat er Tugenden?“ Wer kein Geld hat, mit dem befasst