Seite:DE Stirner Schriften 288.jpg

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Unkeuschheit und hernach gar die Lüge vergeben? Dazu gehört mehr als Sittlichkeit, und könnte sie’s, so fiele ja das ganze hübsche Bauwerk E. Sue’s in ein lächerliches Nichts zusammen, so wäre das Gute nicht mehr das Höchste, so wäre der Mensch erhaben über Tugend und Laster, über Sittlichkeit und Sünde.

Die ganze Collision besteht darin, dass ein Paar Bornirte es mit einander zu thun haben, bornirt beide durch den Wahn des Guten und Bösen. Wie die Welt urtheilt: das und das dürfen wir thun, denn es ist gut, jenes aber, z. B. lügen, dürfen wir nicht, weil es böse ist, so denkt auch die durch Rudolph der Tugend zugeführte Marie.

Legte der Dichter an Marie nicht das Richtscheit der Tugend und Sittlichkeit, sondern mässe sie nach ihr selbst als ihrem eigenen Maasse, wie man gescheidter thäte, wenn man den Löwen nicht nach einer menschlichen Eigenschaft, der Grossmuth, beurtheilte, sondern nach der thierischen Löwennatur, so käme vielleicht das wunderbare Resultat zum Vorschein, dass Marie erst von dem Augenblick an ein elendes, verlorenes Kind wurde, wo sie die Tugend kennen lernte und ihrem Dienste sich weihte, während sie in der Zeit ihres unehrlichen Wandels ein gesunder, freier und hoffnungsvoller Mensch gewesen war. Diess soll nicht etwa nur den oberflächlichen Sinn haben, dass die mit der Tugend zusammenhängende Reue das arme Mädchen unglücklich stimmte und um seinen Frohsinn brachte, sondern den schärferen, dass sie eine gedrückte Sklavin werden musste, sobald sie in die sittliche Welt eintrat und ihren Pflichten sich zu unterwerfen begann. Als der Würgengel der Bekehrung es einmal erfasst hatte, da war es um diess zarte Kind geschehen. Unter dem Druck der Verhältnisse, in welche ihr Schicksal sie geworfen hatte, hätte der offene sinnige Geist dieser Bajadere das starke Zornfeuer ansammeln können, das dazu gehört, um die lastende Erdwucht einer erstarrten Gesellschaft