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Zweiter Gesang.
I. Abtheilung. Vorfegefeuer. Die Ueberfahrenden. Casella.

1
Sol war zum Horizont herabgestiegen,[1]

Deß Mittagskreis, wo er am höchsten steht,
Sieht unter sich die Veste Zions liegen.

4
Nacht, welche sich ihm gegenüber dreht,

War mit der Waag’ am Ganges vorgegangen,
Die, wenn sie zunimmt, ihrer Hand entgeht.

7
Drum hatten Eos weiß’ und rothe Wangen

Dort, wo ich war, weil ihre Jugend schwand,
In hohem Gelb zu schimmern angefangen.

10
Wir waren noch am niedern Meeresstrand,

Und gingen, ob des fernen Wegs in Sorgen,
Im Herzen fort, indeß der Körper stand.

13
Und wie in trüber Röthe, wenn der Morgen

Sich nähert, Mars, im Westen, nah dem Meer
Sich zeigt, von dichten Dünsten fast verborgen,


  1. II. 1. Der Dichter nimmt auf dem Runde der Erde vier Punkte an, deren Meridian, seiner Voraussetzung nach, gleich weit von einander entfernt ist: Jerusalem, den Ebro, den Berg der Läuterung und den Ganges. Die Entfernung des einen Meridians von dem andern beträgt 90 Grade, dergestalt, daß Jerusalem und der Berg des Fegefeuers 180 Grade, oder um die ganze Hälfte des Erdumfangs, von einander entfernt liegen, mit anderen Worten: daß die Bewohner beider Punkte Gegenfüßler sind. Diese beiden Punkte haben einen Horizont, d. h. dieselbe Gränze ihres Gesichtskreises, daher, wenn für Jerusalem die Sonne im Westen diese Gränze überschreitet, d. h. untergeht, sie für den Berg des Fegefeuers im Osten aufgeht. Die beiden anderen Punkte, der Ganges und Ebro, liegen zwischen innen, gegenseitig von sich um 180 Grade, von Jerusalem und dem Fegefeuer-Berge aber um 90 Grade entfernt, welche die Sonne in sechs Stunden durchläuft. Wenn also die Sonne für den Meridian von Jerusalem dem westlichen Horizonte nahe steht, ist sie für den Berg des Fegefeuers im Begriff aufzugehen. Dann verschwindet hier das Weiß und Roth der jungen Morgenröthe und macht dem hohen Gelb Platz, welches dem Aufgange der Sonne vorausgeht. Am Ganges aber, 90 Grad ostwärts, ist sie schon seit sechs Stunden untergegangen. Dort ist’s also eben jetzt volle Nacht. Die Nacht aber bringt im Anfange des Frühlings das Gestirn der Waage mit sich, in welchem die Sonne sechs Monate später, zu Anfange des Herbstes, aufgeht. Zu dieser Zeit nimmt die Nacht zu, die Waage aber entgeht den Händen derselben, weil sie mit der Sonne bei Tage am Himmel steht.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_207.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)