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Zum Berg hin, wo man frei der Hüllen wird,
Die Gottes Anblick noch euch vorenthalten!“

124
Wie wenn, von Weizen oder Lolch gekirrt,[1]

Die Tauben still im Stoppelfelde schmausen,
Und keine mehr umherstolziert und girrt,

127
Dann aber, wenn erscheint, wovor sie grausen,

Sie alle jäh, mit größrer Sorg’ im Sinn,
Von ihrer Weid’ empor im Fluge brausen;

130
So lief die Schaar der Seelen jetzt dahin,

Vom Sange fort, zum Berge sonder Weile,
Wie wer da läuft, allein nicht weiß wohin;

133
Wir aber folgten mit nicht mindrer Eile.
_______________

Dritter Gesang.
I. Abtheilung. Vorfegefeuer. Fortsetzung. Die Säumigen. a) Im Kirchenbann Gestorbene. Manfred.

1
Trieb jähe Flucht auch Alles, was vereinigt

Beim Sänger war, zerstreut jetzt durch den Plan
Dem Berge zu, wo die Vernunft uns peinigt,[2]

4
Doch drängt’ ich’ mich dem treuen Führer an.

Wie konnt’ ich ihn auch bei der Reise missen?
Wie kam ich wohl ohn’ ihn den Berg hinan?

7
Er schien gepeinigt von Gewissensbissen.[3]

O würdig reine Seele, wie empört,
Wie quält der kleinste Fehler dein Gewissen!


  1. 124. Wenn ein Schwarm Tauben sich auf dem Felde niederläßt, sieht man sie erst mit dem ihnen eigenthümlichen, an Stolz erinnernden Nicken des Kopfes girrend umherlaufen. Bald aber suchen sie still und ruhig die Körner im Stoppelfelde, bis sie, wenn irgend etwas sie erschreckt, sämmtlich jählings emporfliegen. Man erkennt bei allen aus der gewöhnlichen Natur entnommenen Gleichnissen, wie genau der Dichter die Erscheinungen derselben bis zur kleinsten beobachtet hat.
  2. III. 3. Wo die Vernunft uns peinigt, d. h. wo sie uns antreibt, uns zu erforschen, um unsere Fehler zu erkennen.
  3. 7. Virgil selbst, die menschliche Vernunft darstellend, hatte sich von der Lust am Gesange, also von gewohnter irdischer Neigung, hinreißen lassen, die ihm aufgetragene Führung zu vergessen, und schämt sich seines Fehlers sowohl als der unmittelbaren Folgen desselben – der eiligen Flucht.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_212.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)