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Felshöh’n und Ebene zum Rand der Schlucht,
Da hieß Sordell am Abhang uns verweilen.

73
Gold, feines Silber und des Coccums Frucht,[1]

Bleiweiß und Indiens Blau in hellster Reine,
Smaragd, zerbrochen kaum – in dieser Bucht,

76
Bei dieses Grases, dieser Blumen Scheine,

Schwänd’ ihrer Farben ganzer Glanz dahin,
Wie seinem Größern unterliegt das Kleine.

79
Nicht war Natur allein hier Malerin,

Mit tausend wunderbar gemischten Düften
Ergötzte sie auch des Geruches Sinn.

82
Salve Regina, tönt’ es in den Lüften

Von Seelen auf dem blumenreichen Beet,
Versteckt hier innen zwischen Felsenklüften.

85
„Bevor die Sonne ganz zur Rüste geht,[2]

Gehn“, sprach Sordell, „wir nicht hinab zu ihnen;
Denn, wenn ihr hier auf diesem Felsen steht,

88
Erkennt ihr besser Aller Art und Mienen,

Als sie im Thale selber, im Gedrang
So vieler großen Schatten, euch erschienen.

91
Der höher sitzt und scheint, als hätt’ er lang

Versäumt, wozu ihn seine Pflicht verbunden,
Und nicht den Mund regt bei der Andern Sang,

94
Ist Kaiser Rudolph, der Italiens Wunden[3]

Zu heilen zwar vermocht, doch nicht geheilt,
So daß es spät durch Andre wird gefunden.

97
Der, dessen Anblick jetzt ihm Trost ertheilt,[4]

  1. 73. Coccum, die Scharlachbeere des Plinius – kaum zerbrochener Smaragd, der den frischesten durch keine Berührung getrübten Glanz der Farbe zeigt.
  2. [85 ff. So wie es sinnbildlich ist, daß die Fürsten selbst hier noch von Pracht umgeben sind, daß sie, V. 91, mitten in derselben stillesitzen und in frommem Gesang um Erlösung aus ihrem Banne bitten: so auch ersieht man leicht den tieferen Sinn davon, daß Dante nicht sogleich zu ihnen hinabsteigen darf. Denn von einem höheren Standpunkt aus, auf dem er nicht selbst dem Sinnenreiz verfällt, soll er sie erst betrachten lernen.]
  3. 94. Kaiser Rudolph. S. die Anm. zum Ges. 6 V. 97.
  4. 97. Rudolph scheint im Anschauen Ottokars von Böhmen um deshalb Trost zu finden, weil er in seinem Benehmen gegen diesen seine [239] Pflichten nicht so, wie, nach Dante’s Vorwurf, gegen Italien vernachlässigt, vielmehr mit Kraft gethan hatte, was ihm als Kaiser oblag.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_238.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)