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Am Tag, da er verließ die theuren Seinen,

4
Die Liebesleid dem neuen Pilgrim bringt,

Wenn fernher, klagend ob des Tags Erbleichen,
Der Abendglocken Trauerlied erklingt.

7
Jedweder Laut schien mit dem Licht zu weichen,

Und eine von den Seelen trat hervor,
Und heischt’ Aufmerksamkeit mit einem Zeichen,

10
Und naht’ und hob die beiden Händ’ empor

Als sagte sie: Du, Gott, nur bist mein Trachten!
Indem ihr Blick im Osten sich verlor.

13
Te lucis ante – diese Worte brachten[1]

Dann ihre Lippen vor, so fromm, so schön,
Daß sie mich meiner selbst vergessen machten.

16
Mit andachtsvollem lieblichen Getön

Stimmt’ ein der Chor zu reichen Wohllauts Fülle,
Den Blick emporgewandt zu Himmelshöh’n.

19
Und nun, o Leser unter leichter Hülle[2]

Such’ jetzt die Wahrheit du mit Blicken klar!
Wiß’, daß nur leis der Schleier sie verhülle!

22
Demüthiglich sah ich die edle Schaar

Nach oben schau’n, erwartungsvoll und schweigend,


  1. 13. Te lucis ante terminum. Anfang einer Hymne, die beim Abendgottesdienste in der katholischen Kirche in der letzten kanonischen Betstunde gesungen, und in welcher Gott angefleht wird, daß er die Gläubigen vor nächtlichen Schreckbildern und Versuchungen bewahren möge, [was auch hier vortrefflich paßt.]
  2. [19 ff. Diese Aufforderung bezieht sich aufs Folgende, dessen Sinn auch in der That unschwer zu entdecken ist. Wir nähern uns dem Thore des eigentlichen Fegefeuers. Gerade an dieser Stelle wäre der Rückfall der bis hierher gelangten büßenden Seelen besonders verhängnißvoll. Darum wachen über ihnen hier – wie überhaupt – Gottes Schutzengel, im grünen Gewande der Hoffnung, mit abgestumpften, nur zum Abwehren bestimmten Schwertern, um die Schlange der Versuchung und Anfechtung von ihnen abzuwehren, welche insbesondere Nachts, d. h. (Gs. 7, 49 ff.) wenn der Mensch die lichte Nähe der Grade nicht festhält, ihn zu überfallen sucht. Daher auch der schon erklärte Gesang der Seelen.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_241.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)