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Zwei Stunden schon, ich sah das Meer sich breiten,

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Da sprach mein Herr: „Nicht sei durch Furcht erschlafft!

Muth, denn uns ist das Schwerste nun gelungen,
Verengre nichte – erweitre jede Kraft.

49
Du hast zum Läut’rungsort dich aufgeschwungen.[1]

Den Felsen sieh, der’s einschließt – sieh das Thor
Dort, wo, wie’s scheint, der Stein entzwei gesprungen.

52
Noch glänzt’ Aurora nicht dem Tage vor,

Du aber lagst, den Geist vom Schlaf befangen,
Im Thale dort auf jenem Blumenflor,

55
Da kam ein Himmelsweib dahergegangen.

„„Lucien seht – den Schläfer nehm’ ich fort,
Und leichter soll er so zum Ziel gelangen.““

58
Sordell blieb mit den andern Seelen dort;

Sie faßte dich, und als der Tag begonnen,
Stieg sie empor mit dir an diesen Ort.

61
Ich folgt’ ihr; und als mir ihr Blick voll Wonnen

Das Thor gewiesen, legte sie dich hin
Und ging, und mit ihr war dein Schlaf entronnen.“

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Gleich wie wir, wenn uns offenen Gewinn

Die Wahrheit zeigte. Sorg’ und Furcht verjagen,
Von Muth und Lust erfüllt den freien Sinn,

67
So ich – und da mich frei von Angst und Zagen

  1. 49 ff. [Mit diesen Versen vollzieht sich eine für die Fegefeuerwanderung, ja für den Gang der ganzen göttl. Kom. höchst wichtige Entwickelung. Dante, der Mensch, kann – auf Grund freiwilliger Umkehr vom Bösen – doch nur durch höhere Macht, durch die Absolution und Rechtfertigung spendende Kirche, endlich zur wirklichen inneren Erneuerung und Sündenablegung gelangen. Dieser Gedanke ist dadurch versinnbildlicht, daß der Dichter schlafend, ohne eigenes Zuthun, durch Lucia, die vergebende Gnade (Hölle, 2, 82 ff.), vor das Thor des eigentlichen Purgatoriums getragen wird. Also hier tritt die berechtigte Einwirkung der Kirche auf; und wenn wir hinzunehmen, wie Virgil, als die Vernunft und das Kaiserthum, eben bis hierher den Dante richtig geleitet hat, so haben wir in dieser Cardinalstelle wieder die Haupt- und Grund-Gedanken des ganzen Dante’schen Systems beisammen. Streckfuß bemerkt geistreich die ganz allgemeine Analogie des Vorgangs: „so geht der Mensch, so gehen ganze Völker aus einer, lange im Stillen vorbereiteten Krisis plötzlich wie durch höhere Einwirkung hervor“.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_248.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)