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Doch theuer macht ihr das Geschmeid’ ihr Sohn!

52
Sah den Sennacherib – im Tempel zücken[1]

Auf ihn die Söhn’ ihr Schwert voll Frevelmuth,
Und kehren dem Erschlagnen dann den Rücken.

55
Des Cyrus Tod und der Tomyris Wuth –[2]

Sie schien zum abgeschnittnen Haupt zu sagen:
Dein Durst war Blut, nun füll’ ich dich mit Blut.

58
Dann der Assyrer Heer – es floh, geschlagen,[3]

Nach Holofernes Tod, noch hinterdrein
Verfolgt der Feind noch die, so nicht erlagen.

61
O Ilion, wie niedrig und wie klein!

Wohl standest du auf Troja’s Fluren dreister,
Als hier, in Asch’ und Schutt, auf dem Gestein!

64
Wer war des Griffels und des Pinsels Meister,

Der Formen und Geberden ausgedrückt
Selbst zur Bewunderung der feinsten Geister?

67
Mir schien, wie ich dahin ging, tief gebückt,

Was todt war, todt, was lebend war, zu leben,
Nicht besser hat’s, wer’s wirklich sah, erblickt.

70
Stolzirt nur hin, fahrt fort, das Haupt zu heben,

Senkt nicht den Blick, ihr, Evens Söhn’, er weist
Euch sonst den schlechten Weg, das eitle Streben! –

73
Schon hatten wir vom Berge mehr umkreist,

Schon war die Sonne weiter fortgegangen,
Als ich bemerkt’ mit dem befangnen Geist:

76
Als Er, deß Fuß und Seele vorwärts drangen,

Begann: „Blick’ auf, erhebe Haupt und Sinn!
Nicht ist’s mehr Zeit, den Bildern anzuhangen.

79
Ein Engel naht – drum blick’ empor, dorthin!

Schon kehrt, von schnellen Fittigen getragen,
Zurück des Tages sechste Dienerin.[4]


  1. 52. [2. Kön. 19, 37.]
  2. 55. Cyrus, König von Persien, wurde nach langem Glücke in einem Kriege gegen ein scythisches Volk, die Massageten, völlig geschlagen und verlor selbst sein Leben. Tomyris, die Königin der Massageten, soll, als sein Leichnam gefunden war, seinen Kopf haben abhauen und mit den im Texte angeführten Worten in ein Gefäß voll Blut tauchen lassen.
  3. 58–63. Der Tod des Holofernes und die Zerstörung Troja’s sind zu bekannt, als daß sie eine Anmerkung erforderten.
  4. 81. Des Tages sechste Dienerin, die sechste Stunde vom [266] Aufgange der Sonne an gerechnet. Es mußte also, da die Reise in der heiligen Woche gemacht wurde, Mittag sein.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_265.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)