Seite:Dante - Komödie - Streckfuß - 271.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Und durch die grause Nacht gepreßte Zähren,
Die ihre Wangen netzten, nahm ich wahr.

85
„„Ihr, sicher, euch im Lichte zu verklären,““

Begann ich nun, „„das einzig euer Traum,
Das einzig euer Wunsch ist und Begehren,

88
Die Gnade lös’ euch des Gewissens Schaum[1]

Und mache drin auf reinem lautern Grunde
Der Seele klarem Fluß zum Strömen Raum.

91
Doch bitt’ ich euch, gebt mir gefällig Kunde:

Ist eine Seel’ aus Latium hier? – Ich bin
Für sie vielleicht dann hier zu guter Stunde.““

94
„O Bruder, jede Seel’ ist Bürgerin[2]

Von einer wahren Stadt – doch willst du fragen,
Ob ein’ in Welschland lebt’ als Pilgerin.“

97
So schien’s von mir noch etwas fern zu sagen,

Daher ich, weil ich fast das Wort verlor,
Sogleich beschloß, mich weiter vor zu wagen.

100
Und Eine wartete, so kam mir’s vor,

Auf Antwort, und, um’s deutlicher zu zeigen
Hob sie, dem Blinden gleich, das Kinn empor.

103
„„Du, die der Qual sich beugt, um aufzusteigen,

Warst du’s, die Antwort gab, so magst du mir
Jetzt deinen Ort und Namen nicht verschweigen.““

106
„Ich war von Siena, und mit diesen hier,“

So sprach sie, „läutr’ ich mich vom Lasterleben
Und weinend flehn um Gottes Gnade wir.

109
Sapia hieß ich und ich war ergeben[3]

Der Thorheit, denn mir schien der Andern Leid


  1. 88. Der Schaum des Gewissens, dasjenige, wodurch es unklar wird, folglich die Sünde.
  2. 94–96. Der Dichter hat gefragt: Ob Latium das Vaterland irgend eines der Schatten sei? Darauf wird ihm entgegnet: Auf Erden hat man kein Vaterland, sondern lebt nur als Pilger dort. Bürger wird man erst in der wahren Stadt, d. h. im Himmel. (Vgl. Epheser 2, 19.)
  3. 109. Hier ist im Original ein unübersetzbares Wortspiel: Savia non fui avegna che Sapia fossi chiamata. Diese Sapia, eine angesehene Frau von Siena, war in die Händel jener Zeit verflochten und lebte verbannt in Colle. Als dort die Sienesen von den Florentinern geschlagen wurden, bezeigte sie die größte Freude über die Niederlage ihrer verhaßten Landsleute [1269].
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_271.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)