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Ihr lächelt, eh’ sie ist, gleich einem Kind,
Das lacht und weint in unschuldsvollem Lallen,

88
Die junge Seele, die nichts weiß und sinnt,

Als, daß, vom heitern Schöpfer ausgegangen,
Sie gern dahin kehrt, wo die Freuden sind.

91
Sie schmeckt ein kleines Gut erst, fühlt Verlangen

Und rennt ihm nach, wenn sie kein Führer hält,
Kein Zaum sie hemmt, der Neigung nachzuhangen.

94
Gesetz, als Zaum, ist nöthig drum der Welt,[1]

Ein Herrscher auch, der von der Stadt, der wahren,
Im Auge mindestens den Thurm behält.

97
Gesetze sind, doch wer mag sie bewahren?[2]

Kein Mensch, denn seht, ein Hirt, der wiederkaut,
Doch nicht gespaltne Klau’n hat, führt die Schaaren;

100
Daher die Heerde, die dem Führer traut,

Der das verschlingt, wonach sie selber lüstert,
Nur dies begehrt und nicht nach Höherm schaut.

103
Drum, was man auch von anderm Grunde flüstert,

Nicht die Natur ist ruchlos und verkehrt,
Nur schlechte Führung hat die Welt verdüstert.

106
Rom hatte, da’s zum Glück die Welt bekehrt,

Zwei Sonnen, und den Weg der Welt hatt’ Eine,[3]


  1. [94–96. Vor allem braucht die Menscheit einen weltlichen Herrscher, welcher von der „Stadt Gottes“, dem Reiche Gottes auf Erden „den Thurm im Auge behält“ d. h. den äußeren Frieden der Menschheit wahrt. – Damit ist die Nothwendigkeit und der Machtkreis des Kaiserthums, im Unterschied vom Papstthum gezeichnet. S. Vorbem. zu Hölle Ges. 1. und Par. Ges. 27, 139 ff.]
  2. [97–99. Aber nicht nur hat Italien keinen Kaiser, sondern auch der Papst, der es beherrscht, ist ein elender Hirte, ein unreines Thier. Damit ist wieder Bonifaz VIII gemeint! Daß er „wiederkaut, aber nicht, wie es das Gesetz Moses verlangt, auch gespaltene Klauen hat“ ist jedenfalls allegorisch und mag nach Augustin das Erste auf die Weisheit und äußerliche Schriftgelehrsamkeit, das Andere auf die mangelnden guten Sitten, und zugleich Jenes auf die Habgier, dieses auf den Geiz der Päpste bezogen werden.]
  3. [107–111. Zwei Sonnen, den Kaiser und den Papst. Also nicht „eine Sonne das Papstthum, dessen Mond das Kaiserthum wäre, [290] wie Gregor VII. sagte! In diesem Satz gipfelt die ganze, etwas gewaltsam gerade an diesem Ort herbeigeführte Unterredung.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_289.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)