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„Maria, süße!“ klang’s vor meinem Schritte,[1]

Und wie ein kreisend Weib zu jammern pflegt,
So kläglich schien der Ruf der frommen Bitte.

22
„Du warst so arm!“ so sagt’ es dann bewegt,

„Der Armuth sehn wir jene Kripp’ entsprechen,
In welche du die heil’ge Frucht gelegt.“

25
„Fabricius, Wackrer!“ hört’ ich’s weiter sprechen,[2]

„Tugend mit Armuth schien dir mehr Gewinn,
Als der Besitz des Reichthums mit Verbrechen.“

28
Gar wohl gefiel mir dieser Rede Sinn,

Und um zu sehn, wer von den Felsenbänken
Sie ausgesprochen, wandt’ ich mich dahin.

31
Und weiter sprach er noch von den Geschenken,

Die Nicolas gemacht den Mägdelein,[3]
Um sie zum Weg der Ehre hinzulenken.

34
„„O Geist, der du so wohl sprichst,““ fiel ich ein,

„„Sprich jetzt, wer warst du und aus welchem Grunde
Erneust du hier so würd’ges Lob allein?[4]

37
Nicht unbelohnt soll bleiben solche Kunde,

Kehr’ ich zurück zum Rest der kurzen Bahn
Des Lebens, das da eilt zur letzten Stunde.““

40
Und Er: „Nicht will von dort ich Hülf’ empfahn,[5]

Doch red’ ich, denn mir strahlt im hellen Lichte
Die Huld, die Gott dir vor dem Tod gethan.

43
Des Baumes Wurzel bin ich, der in dichte[6]

  1. 19. Hier folgen Beispiele würdig ertragener und ruhmvoller Armuth, welche einer der Büßenden selbst sich und den Andern vorhält.
  2. 25. Fabricius, als Gesandter der Römer zu Pyrrhus, König von Epirus, geschickt, blieb ungeachtet seiner Armuth eben so unempfindlich gegen die vom Könige ihm gebotenen Geschenke, als gegen den Elephanten, der auf des Königs Veranstaltung hinter ihm plötzlich hervortrat.
  3. 32. Nicolaus, der Heilige, stattete drei junge Mädchen aus, welche ihr Vater aus Armuth preisgeben wollte.
  4. 36. Auf die Frage: warum der eine Schatten allein spreche? folgt die Antwort V. 121–123.
  5. 40. Der Büßende hält die noch lebenden Mitglieder seines Geschlechts für so ruchlos, daß er sie zum gläubigen Gebete nicht fähig meint, und daher auch durch sie keine Abkürzung der Reinigungszeit erwartet.
  6. 43–69. Der Dichter läßt hier Hugo den Großen, Herzog von Frankreich, Orleans und Burgund, den Stammherrn der Capetinger, auftreten, um seinen ganzen Groll gegen die Dynastie auszuschütten, [310] von welcher sein Hauptfeind (Karl Valois) abstammte. Als die Karolinger, eben so wie zwei Jahrhunderte früher die Merowinger, durch eigene Nichtigkeit zu Grunde gegangen waren, wurde Hugo Capet, Sohn des großen Hugo, Urenkel Roberts des Starken, im Jahre 987 zum Könige von Frankreich gewählt. Hieraus ergiebt sich, daß der Dichter, wenn er V. 52 den Hugo sich einen Metzgersohn nennen läßt, einer Fabel folgte, welche wahrscheinlich der Haß gegen die herrschende französische Dynastie zur damaligen Zeit in Italien ausgesprengt hatte. – Auch das, was Dante V. 54 anführt: daß nämlich schon zu Hugo’s des Großen Zeit nur noch Einer der Karolinger gelebt habe, ist schwer mit der Geschichte zu vereinigen, man möge die panni bigi des Originals erklären, wie man wolle. Denn Hugo der Große starb im Jahr 956, und als 31 Jahre später sein Sohn nach Ludwig des Fünften Tode den französischen Thron bestieg, machte Karl, Herzog von Lothringen, Ludwigs Ohm, Ansprüche auf den Thron, wurde aber [311] geschlagen und gefangen. Diesen letztern meint wahrscheinlich Dante, indem er die Zeit Hugo des Vaters mit der Hugo des Sohns verwechselt. In den V. 46–48 deutet der Dichter, immer von dem Standpunkt des Jahres 1300 ausgehend, prophetisch auf die im Jahre 1302 erfolgte Vertreibung der Franzosen aus Flandern. – In V. 61–69 spricht er von der von ihm für widerrechtlich gehaltenen Vergrößerung der Macht des königlichen Hauses, von der Erwerbung des Reichs Neapel und des Hohenstaufen Konradin bekannter Hinrichtung. Den Thomas von Aquino soll Karl auf dem Wege zum Concilium von Lyon haben vergiften lassen.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_309.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)