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Worin ein Weiserer als du, geirrt.[1]

64
Er war der Meinung, von der Seele wäre

Gesondert die Vernunft, weil kein Organ
Die Aeußerung der letztern uns erkläre.

67
Jetzt sei dein Herz der Wahrheit aufgethan,

Damit dein Geist, was folgen wird, bemerke!
Wenn Bildung das Gehirn der Frucht empfahn,

70
Kehrt, froh ob der Natur kunstvollem Werke,

Zu ihr der Schöpfer sich, und haucht den Geist,
Den neuen Geist ihr ein, von solcher Stärke,

73
Daß er, was thätig dort ist, an sich reißt,

Und mit ihm sich vereint zu Einer Seele,
Die lebt und fühlt und in sich selber kreist.

76
Und daß dir’s nicht an hellerm Lichte fehle,

So denke nur, wie sich zum edlen Wein
Die Sonnenglut dem Rebensaft vermähle.

79
Gebricht es dann der Lachesis an Lein,[2]

Dann trägt im Keim sie aus des Leibes Hülle
Des Menschlichen und Göttlichen Verein;


  1. [63. Polemik gegen Averrhoës, den großen, arabischen Erklärer des Aristoteles, der aus des Letzteren Schriften eine, der Auffassung Dante’s entgegenstehende Ansicht entwickelt hatte, welche schon merkwürdige Aehnlichkeit mit gewissen, modernen Anschauungen hat. Nemlich die, daß dem Menschen Vernunft und Geist („intellectus possibilis“ „il possibile intelletto“) nur dadurch werde, daß ein „universeller Intellect“ auf Lebensdauer mit dem Kind eine, an kein besonderes Organ gebundene und daher mit dem Tod erlöschende, Verbindung eingehe. Es gebe also keine persönliche Unsterblichkeit. – An dieser Polemik schließt sich dann eben die weitere Entwicklung Dante’s in Betreff des Todes und des Zustandes nach dem Tod in V. 79 –108 wie folgt:]
  2. [79–108. Nicht eine Auflösung ins Nichts ist der Tod, wenn die Parze „des Leins entbehrt“ d. h. den Lebensfaden abschneidet. Sondern die (solchergestalt entstandene) Seele löst sich nun vom Fleisch, „den Verein von Göttlichem und Menschlichem im Keime mit sich nehmend,“ V. 79–81. Indem nemlich jetzt die niederen Kräfte („die Accidenzien des Körpers“) ohne das Organ des Leibes verstummt und latent in ihr sind, treten die ihr eigenen Accidenzien, nemlich Intellect, Wille und Gedächtniß, um so schärfer hervor, da diese ohne ein fleischliches Medium viel besser wirken können V. 82–84 (cfr. Paulus, 1 Cor. 13, 12 „erkennen, wie ich erkannt bin“) Nachdem nun die Seele, gemäß Gottes Richterspruch V. 31, an einem der beiden Ufer des Acheron oder des Tiber niedergesunken und von dort wieder an dem [340] ihr beschiedenen Orte der Hölle oder des Fegefeuers angekommen ist, so erfaßt sie, die ihr eigene Bildungskraft ausstrahlend, die umgebende Luft, um derselben, wie einst den irdischen Stoffen des Erdenleibs, ihr Bildniß einzuprägen, V. 85–96. Dies ist der Schattenleib, welcher also die bewegliche Form des geschiedenen Geistes und das Organ der, in ihm nun aufs Neue hervortretenden, niederen und höheren Accidenzien ist. Daher ihm jeder Sinn, sogar Sehen und Gesehenwerden, und Begehren, Wollen, Erinnern, Lust und Schmerz zu äußern gegeben ist, nach Maßgabe der in ihm waltenden Seelenkraft V. 97–108. Mit diesem Satze ist Dante an dem in V. 20 ff. postulirten Ende seiner Darlegung. Im Uebrigen weiß der Leser aus früheren Stellen, daß der Schattenleib nur ein intermistischer ist und am jüngsten Gericht alle Seelen ihren Erdenleib in verklärter oder ewig finsterer Gestalt wieder anziehen werden.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_339.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)