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Der Heimath nah’ ist, scheuchte, höher rückend,

112
Die Finsterniß von allen Seiten fort,

Mit ihr den Traum; drum eilt’ ich aufzusteigen,
Und sah schon aufrecht beide Meister dort.

115
„Die süße Frucht, die auf so vielen Zweigen[1]

Voll Eifer sucht der Sterblichen Begier,
Bringt deine Wünsche all’ noch heut’ zum Schweigen!“

118
Mit dieser Rede sprach Virgil zu mir,

Und nie empfand bei Erden-Herrlichkeiten
Ein Mensch noch solche Lust, als ich bei ihr.

121
Hinauf! Mich trieb’s und trieb’s, hinauf zu schreiten!

So fühlt’ ich nun mit jedem Schritt zum Flug
Die Schwingen wachsen und sich freier breiten.

124
Und wie er mich empor die Stufen trug,

Stand bald ich auf der höchsten dort mit Beiden,
Wo fest auf mich Virgil die Augen schlug.

127
Des zeitlichen und ew’gen Feuers Leiden,[2]

Sahst du, und bist, wo weiterhin nichts mehr
Ich durch mich selbst vermag zu unterscheiden.

130
Durch Geist und Kunst geleitet’ ich dich her;

Zum Führer nimm fortan dein Gutbedünken;[3]
Dein Pfad ist fürderhin nicht steil und schwer.

133
Sieh dort die Sonn’ auf deine Stirne blinken,[4][5]

  1. [115. Die süße Frucht, die Seligkeit in der Gnade und Erkenntniß im irdischen Paradies. Vgl. Schlußbemerkung.]
  2. [127. Das zeitliche Feuer, das des Fegfeuers, das ewige das der Hölle. Vgl. Hölle, 3, 8.]
  3. [130. 131. Bisher galt es Forschen und Streben; jetzt kommt das frei-innerliche Erkennen in Einheit mit der göttlichen Gnade.]
  4. [133. Dort, wo er jetzt hinkommt, im Paradies s. Ges. 28.]
  5. [127–142. Schlußbemerkung.
    Diese Stelle ist, nächst Fegf. Ges. 9, 49–132, die zweite Cardinalstelle für die Entwicklung der ganzen göttl. Kom. – Dante, der Mensch, hat durch bußfertige Anschauung der Höllenstrafen und durch fortlaufende Läuterung und Sündenablegung im Fegefeuer, wozu er durch die Absolution in Ges. 9 zugelassen worden, „die, durch die Sünde, verlorene Freiheit des Geistes nunmehr wieder gewonnen; sein Wille ist rein und gerade, eins mit Gott; Gott ist in ihm völlig geboren. Soweit hat er den Virgil zum Hauptführer gehabt. Den Zustand aber nun, den die Menschheit nach Gottes Willen sucht und findet nur durch geregelten Vernunftgebrauch unter Vermittlung der providenziellen Kaiser- [353] und Papstordnung, diesen Zustand hat jetzt Dante auch für sich gefunden und er muß nun vollends zu Gott kommen durch die reine Führung der Gnade (Beatrix), welche ja schon seit der, im neunten Gesang vor sich gegangenen Entwickelung, den Virgil allmälig abzulösen begonnen hatte (vgl. auch Ges. 21, 82 ff. Statius). Virgils Rolle ist also jetzt ausgespielt. Er geht zwar noch eine Weile (mit Statius) mit, aber ohne noch ein Wort zu reden und verschwindet plötzlich in Ges. 30, 49.“ Pfleiderer, am ang. Ort S. 131. – Der Leser sieht hiernach das in der allgemeinen Vorbemerkung, sowie zu Hölle 1, 62 und Fegf. 9, 49 Gesagte, unsere ganze Auffassung des Virgil und des ganzen Gedichtes sich auch hier wieder bestätigen. Vgl. auch 18, 70.
    Und dem entsprechend gestaltet sich die letzte Entwicklung in der III. Abtheilung des Fegefeuers, in welche wir mit Ges. 28 eintreten. Es ist die obere Abplattung des Berges, von einem Waldeskranz schön umgürtet, durch einen lieblichen Bach abgetheilt und jenseits desselben, in ihrer Mitte, das „irdische Paradies“ mit dem Baum des Lebens, d.h. den Aufenthaltsort der vollkommenen Seelen tragend, welche zur Aufnahme in das eigentliche Paradies, in den Himmel, reif und bereit sind. Man sieht nun leicht, dieses irdische Paradies, welches in 28, 76 und 142 ausdrücklich mit dem Garten Eden und dem Urstand identifizirt ist, bezeichnet 1. im Allgemeinen den, ursprünglich gottgewollten, idealen Zustand der Christenheit, wie er bei rechter Führung der Menschen (Virgil) schon auf Erden eintreten würde; es verkörpert also recht eigentlich eben jenen, in der Vorbem. S. 7. vorangestellten Grundgedanken der ganzen göttl. Kom. Demnächst 2. bedeutet dies für den Einzelnen, zumal für Dante, ebenfalls die Rückkehr zum Urstand, die Vollendung der in Ges. 9 erfolgten Rechtfertigung durch die Heiligung und Erneuerung und so die Erreichung des vollkommenen Gnadenstandes, jener christlichen Vollkommenheit, womit das Fegefeuer nothwendig schließen und der Mensch von der „irdischen“ zur „himmlischen Glückseligkeit“ erhoben werden, der zweite Theil der Divina Commedia in den dritten übergehen muß. – Zunächst werden wir nun noch einige vorbereitende Symbolik finden, werden den Dante dem Bache sich nähern, jenseits desselben einen [354] wundersamen Festzug – die wahre Kirche und Gemeinde der Heiligen – erblicken sehen, bis mitten in demselben Beatrix sich entschleiert, um als die vollendende Gnade (gratia perficiens) und himmlische Weisheit von oben, des Dichters ganzen bisherigen Läuterungsgang zu bestätigen und ihm die Krone, die letzte Weihe eben der christlichen Vollkommenheit und der Bereitschaft für den Himmel zu verleihen, wie wir in Ges. 30–32 des Näheren sehen werden.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_352.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)