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Die Dünste, die der Hitze nach, so weit
Es möglich ist, emporgezogen werden,

100
Ihn nicht befehdeten mit ihrem Streit,

Stieg himmelwärts der Berg in solcher Weise,
Und ist vom Thor an ganz von Dunst befreit.

103
Nun, weil noch immerfort im ersten Gleise[1]

Der Lüfte ganzer Zirkellauf sich dreht,
Wenn nichts ihn unterbricht in seinem Kreise,

106
Trifft diesen Gipfel, der frei ragend steht,

Die Lebensluft, die, jedes Blatt bewegend,
Den dichten Wald mit diesem Klang durchweht.

109
Die Pflanze, sich in ihrem Hauche regend,[2]

Beschwängert dann die Luft mit ihrer Kraft,
Und diese streut sie aus in jede Gegend.

112
Auch andres Land, nachdem sein Boden schafft,

Durch Sterngunst oder eig’ne Kraft, es treibet
Dann Bäume von verschiedner Eigenschaft.

115
Nun denk’ ich, daß dir’s mehr kein Wunder bleibet,

Wie manche Pflanze, wo man nicht bestellt,
Ja, ohne sichtbar’n Samen, doch bekleibet.

118
Und wissen sollst du, daß im heil’gen Feld,

In dem du bist, die Samen alle sprießen,
Und Früchte, nie gepflückt in eurer Welt.

121
Den Fluß auch siehst du nicht aus Adern fließen,

Genährt vom Dunst, den Kälte niederpreßt,
Die bald vertrocknen, bald sich wild ergießen.


  1. 103. Die Bewegung der Luft, die hier gefühlt wird, ist also nicht durch Dünste entstanden, sondern durch die vom Dichter vorausgesetzte immer gleiche Bewegung der Gestirne von Osten nach Westen. Es weht daher ein immer sich gleichbleibender Ostwind. Daß auch diese Gleichheit der Luftbewegung, die unabhängig von jedem irdischen Zufalle ist, zugleich den Seelenzustand des geläuterten Menschen ausspricht, ergibt sich aus dem schon Bemerkten sowie aus dem Contrast, in welchem diese Luft mit den Winden steht, welche Lucifer durch das Bewegen seiner Flügel nach verschiedenen Richtungen hin erregt. (Vgl. Hölle Ges. 34 V. 50 ff.)
  2. 109. Jener reine, von Gott dem Menschen ursprünglich eingepflanzte Wille ist es also, der den Samen des Guten und des Glückes, zu welchem der Mensch ursprünglich bestimmt war, noch über die Erde ausstreut. Die Allegorie wird bei aufmerksamer Verfolgung des Textes allenthalben hervortreten.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_359.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)