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Trugbildern folgend schnöden Wonnelebens,
Und falschen Lockungen und leerem Wahn.

133
Im Traum und Wachen rief ich ihn vergebens,

Und Mahnung haucht’ ich ihm und Warnung ein,
Doch blieb er taub im Leichtsinn eitlen Strebens.

136
Ein Mittel konnt’ ihm nur zum Heil gedeihn,

So tief schon hatt’ er sich im Wahn verloren,
Und solches war der Anblick ew’ger Pein.

139
Deswegen drang ich zu der Hölle Thoren,

Und habe den, der ihn heraufgeführt,
Mit Bitten und mit Thränen dort beschworen.

142
Nicht wär’s, wie sich’s nach ew’gem Rath gebührt,

Wenn er durch Lethe ging’ und sie genösse,
Und nicht vorher, bußfertig und gerührt

145
In Reuezähren seine Schuld ergösse.“
_______________

Einunddreißigster Gesang.[1]
Fortsetzung. Dante’s Generalbeichte vor Beatrix. Eintauchung und Uebergang über den Bach in’s Paradies. Beatrix entschleiert sich.

1
„Du, jenseits dort am heil’gen Strom,“ so kehrte

Sie jetzt der Rede Spitze gegen mich,[2]


  1. [XXXI. Vorbemerkung.
    Dieser Gesang, nebst den 12 ersten Versen des nächsten, ist, neben Fegf. 9 und 27, die dritte Cardinalstelle für die Entwicklung der göttl. Komödie, der eigentliche Mittelpunkt derselben, um den sich das Vorangegangene, wie das noch Folgende, bewegt. Die Bedeutung desselben läßt sich für uns nunmehr, unter unmittelbarer Anknüpfung an die Schlußbemerkung zu Ges. 27, leicht und einfach charakterisiren. Es handelt sich, sagten wir dort, noch um die letzte Weihe des schon geläuterten Menschen für den Eintritt in den paradiesischen Zustand, und für den Fortschritt von da aus zur absoluten Seligkeit in der, bis zur Anschauung steigenden, Gotteserkenntniß (III. Th. Paradies). Diese letzte Weihe, welche zugleich die Aufnahme in die unsichtbare Kirche darstellt, wird von Beatrix, dem im Wagen [374] thronenden Lebensprincip derselben, durch folgende Acte vollzogen: 1) Sie nimmt eine letzte, gleichsam alles resumirende, aber offenbar vorwiegend rein persönliche, Generalbeichte von dem Dichter entgegen. V. 1–90. 2) Sie läßt den Dichter durch Matilde in Lethe eintauchen und tränken, (also eine Art der Taufhandlung, die wahre, die Geistestaufe!) zum Zeichen der Austilgung auch jeder schmerzenden Erinnerung der schon vergebenen Sünde in seinem Geist, V. 91–102 und läßt ihn durch dieselbe dem Reigen der vier weltlichen Tugenden einverleiben, endlich zum Greifen, zu Christo hinführen V. 103 bis 123. Damit ist auch der Uebergang über den Bach geschehen. Diese Functionen kommen der Matilde zu als dem Symbol der practischen Seite der christl. Vollkommenheit, auf deren Höhe also Dante nun angelangt ist, vgl. zu 27, 100; 28, 40. Später erst – offenbar aus poetischen Rücksichten – aber im innigsten Zusammenhang mit der Eintauchung in die Lethe, muß Matilde den Dichter auch noch in die Eunoe tauchen, Ges. 33 Schluß, was wir hier gleich anfügen wollen. Wie diese beiden Bäche eigentlich einer und derselbe sind, so auch erscheint hier eine symbolische Handlung, die Vollendung der Heiligung, nur in 2 Acte gespalten, deren erster mehr das Negative, der zweite mehr das Positive der Sache, die Erinnerung des Guten, die Kraft zum Guten, in’s Licht setzt. 3) Zuletzt entschleiert Beatrix sich selbst, seinem völlig hingenommenen Anschauen nicht mehr wehrend, V. 124–32, 6 und symbolisirt dadurch Dante’s völlige Vereinigung mit ihr als der alleswirkenden, vollendenden Gnade in Christo von oben und zugleich der höchsten, beseligenden Gotteserkenntniß im Gemüth selbst (die christliche Vollkommenheit nach der beschaulichen Seite Gs. 28, 40 und 32, 9), welch’ letztere nunmehr im Himmel, im Paradies bis zur äußersten Grenze des Anschauens Gottes verfolgt wird, worin die göttl. Kom. ihr Ende findet.
    Bestätigt sich uns somit hier unsre, schon zu Hölle Gs. 1 und 2 angedeutete Auffassung der Beatrice nach ihrer symbolischen Bedeutung, so ist dies zugleich der Ort, wo der Leser am Besten sehen kann, wie die wirkliche – freilich ganz idealisch zu denkende, vgl. zu Hölle 2, 53 ff. extr. – Jugendliebe der symbolischen Beatrice zu Grunde liegt, wie die Wiedervereinigung mit beiden hier ihren Triumph feiert, die Apotheose der Geliebten und die geistliche Erhebung des Menschen zu Gott zugleich dem Dichter vorschweben und wie Dante überhaupt hier, ja sein ganzes Werk hindurch, jenes Dreifache erreicht, was wir von Anfang an als den Sinn der göttl. Kom. angegeben und festgehalten haben, nämlich: auf Grundlage seines eigenen Selbsterlebnisses den Heilsweg der Menschheit im Ganzen und speciell seiner Zeit vorzuführen. – Der Erinnerung an den letzteren, den kirchenpolitischen Sinn und Zweck der göttl. Kom. ist klar und nachdrücklich die Vision und Weissagung der Geschichte der Kirche gewidmet, [375] welche Beatrix nach den Vorgängen in Ges. 31, in Ges. 32 und 33 noch dem Dante enthüllt mit dem ausdrücklichen, öfteren Befehl, das Gesehene auf Erden zu verkündigen. – Im Uebrigen können wir nicht unterlassen hier wenigstens kurz zu bemerken, daß unsre Ansicht von dem dreifachen Sinn der göttl. Kom. keineswegs ausschließen soll, daß nicht an einzelnen Stellen auch eine einzelne dieser Beziehungen besonders hervor- und eine andere zurücktreten könne – wie dies öfters auch der Fall ist und schon durch den Grundcharakter des Werks als freier Dichtung verlangt wird.
    Wir glaubten, das Vorstehende am Besten zusammenhängend vorausbemerken zu sollen; und indem wir im Folgenden nun nur die Einzel-Notizen nachzutragen haben, wird der Leser im rascherem Zuge die letzten Gesänge und insbesondere den vorstehenden zu lesen und in seiner ganzen, hohen Schönheit nachzuempfinden vermögen.]
  2. [375] [2. Sie hatte bisher zu den Engeln gesprochen, so daß zwar auch die Schneide ihrer Worte den Dichter traf (30, 106). Jetzt aber wendet sie sich direct gegen ihn.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_373.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2018)