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Das Paradies.
[Abfassungszeit: letzte Lebensjahre des Dichters.*)[1]]
_____


Erster Gesang.[2]
Invocation. Siebenter Morgen; Aufflug zum Himmel. Belehrung über das Weltall.


1
Der Ruhm deß, der bewegt das große Ganze,[3]

Durchdringt das All, und diesem Theil gewährt
Er minder, jenem mehr von seinem Glanze.


  1. *) [Das Paradies wurde von D. mit langem Widmungsschreiben von Ravenna an Can grande nach Verona gesandt. Dies Schreiben liefert auch viele authentische Gesichtspunkte für Auffassung der göttl. Kom. im Ganzen.]
  2. Vorbemerkung. Wir haben schon in der Vorbem. zu Ges. 31 des Fegf. den Gang der göttl. Kom. bis zum Schluß skizzirt. Das vorliegende (himmlische) Paradies ist in der That nichts Anderes, als eine Ausführung der, schon dort eigentlich im Keime gegebenen, Einigung des Menschen mit dem Göttlichen. Dieselbe wird nun nur noch in ihrer vollen Entfaltung aufgezeigt d. h. die absolute, himmlische Seligkeit wird an der steigenden Gotteserkenntniß bis zur vollen Gottesanschauung verfolgt, worin die Gottvereinigung (unio) liegt, das höchste Ziel der gottebenbildlichen Menschheit. Diese Aufzeigung geschieht, als eine an und mit Dante selbst sich vollziehende innere Entwicklung, durch ein zweifaches poetisches Mittel: 1) Der Dichter besucht wieder die stufenweise sich folgenden 9 Kreise der Seligen, an und mit ihnen die Seligkeit von Stufe zu Stufe selber erfassend, theilend und erlebend; 2) er empfängt noch überdies gelegentlich dieser Wanderung gesprächsweise eine bestimmte Summe von Belehrungen über die Hauptpunkte des Christenthums. – Das Erstere leitet den epischen Faden auf eine, nunmehr allerdings sehr dünngesponnene und wenig bewegte Weise fort; das Andere prägt dem Paradies den vorherrschenden Charakter eines Lehrgedichtes auf. Die wandernde Betrachtung der Seligen, vielmehr diesmal der Flug durch ihre Kreise, dient vornehmlich der stufenweisen Vorbereitung der Anschauung Gottes und des Vollgenusses der Seligkeit; die Belehrung dagegen der Vollentwicklung seines Erkennens, als der andern Seite der beatitudo. [398] Jene giebt dem Dichter zu freier Phantasie-Gestaltung Raum; diese schließt sich streng dem scholastischen Lehrgange an. – Der letztere forderte nämlich folgenden Stufenweg, dem dann die Belehrungen Dante’s genau folgen: a) über das Weltall, Ges. 1, 2; b) über den freien Willen des Menschen Ges. 4, 5; c) über Sündenfall und Erlösung, Ges. 6, 7; d) über die Gnadenwahl, Ges. 19, 40; 20, 94; 21, 76; e) über die drei geistlichen Tugenden (vgl. Fegf. 29, 121) Glaube, Liebe, Hoffnung, Ges. 24–26; f) die Lehre von den Engeln, Ges. 28–29. Dagegen sind die neun Kreise der Seligen im Einzelnen freie Erfindung des Dichters, soweit nicht die überirdischen Oertlichkeiten, wo er sie findet, dem ptolemäischen System entnommen sind, welches sich die Erde von sieben Planeten in immer weiterer Ferne umkreist und über diesen den Fixsternhimmel, endlich den Krystallhimmel, das primum mobile, ausgebreitet denkt. Indem nun zwar Dante die Geister auf diese sieben Planeten und zwei Himmel nach dem Princip immer höherer und vollkommenerer Seligkeit vertheilt, will er jedoch nach Ges. 3, 70 ff., 4, 28 ff. die überall gleiche und ganze Seligkeit damit nicht in Wahrheit zerspalten, sondern vielmehr nur poetisch zerlegen und individualisiren, was ihm mit Meisterschaft gelingt. Ebensowenig natürlich denkt er sich die himmlischen Räume von einander abgegrenzt. Denn über ihren neun Kreisen wölbt sich der zehnte, der Feuerkreis oder das Empyreum, der höchste Himmel Gottes selbst, das urbewegende Unbewegliche, in und nach welchem sich die andern Himmel, von Sehnsucht hingerissen (Ges. 1, 77) drehen und wo Dante in der Himmelsrose alle Seligen beisammen sieht. Also ein Himmel, in’s Unendliche mit mächtiger Wölbung und immer weiteren Kreisen verschwebend und dieses Ganze durchwogt von Millionen lichter Seelenflammen, die jede in ihrem Maaß und alle völlig im All-Einen selig sind: dies ist das majestätisch-prachtvolle Gesammtbild des D.’schen Paradieses – Die Kühnheit in der Conception, die tiefsinnige Vergeistigung des Stoffs und die glänzende Detailmalerei wird man dieser letzten Schöpfung des unversieglichen Genius niemals abzusprechen vermögen. Mit den kindlich-naiven, oder grob-sinnlichen poetischen Schildereien des Jenseits im Mittelalter hat er hier, wie bei der Hölle, kaum mehr, als eben den Gegenstand gemein. Fehlt auch im Paradies die bewegende Handlung – sie muß es hier, wo die innere Entwicklung, ohne Krisen, ohne Wendepunkte nur mehr eine leise, gleichmäßige Entfaltung ist. Beatrix führt den Dichter, voranschwebend. Ihre Gestalt bildet ja von Fegf. 30 an den Mittelpunkt als Geliebte und Gottesgnade zugleich, im Paradies aber nunmehr speciell als die, dem Dichter, dem Menschen inne gewordene Gnade und Erleuchtung, mit andern Worten: als Personification der gottbegnadeten, vollendeten Seele selbst (zu Hölle 2, 121). Es ist von unvergänglichem Reiz, wie ihr Blick, ihr Lächeln, ihre [399] grenzenlos sich verklärende Schönheit ihn von Stern zu Sterne hinaufzieht. Aber in den persönlichen und moralischen Grundgedanken der Dichtung wird auch hier der zeitgeschichtliche mit aufgenommen. Als ein seliger Prophet zürnt und mahnt er vom Himmel herab mit directen Worten, wie im Fegf. mehr mit eingewobenen Beziehungen und Symbolen, ja seine diesfallsigen Auslassungen haben nun hier sogar von Stern zu Stern eine, denselben entsprechende Reihenfolge und Vollständigkeit und wiederholen, bestätigen so gleichsam vor Gottes Thron die ewig wahren Grundlagen des erleuchtetsten politischen und Geschichts-Systems, welches das Mittelalter kennt.]
  3. [399] [1–4. Vgl. Hölle 1, 127 ff. Gott, der Urbeweger, wohnt im höchsten, hellsten Himmel, dem Empyreum, von wo sein Licht sich über die ganze Welt ergießt, in dem Maße, als ein jedes Ding, nach seiner mehr irdischen oder himmlischen Natur, es aufnimmt. Nach Aristoteles und den Scholastikern.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_397.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)