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112
Und zwischen letzter Nacht und erstem Tag

Ist niemals noch so Herrliches geschehen
Und Höheres man niemals sehen mag.

115
Freigeb’ger war’s, von Gott, selbst einzustehen,

Daß zur Erhebung Kraft dem Menschen ward,
Als wenn er nur die Sünde nachgesehen!

118
Karg wär’ erfüllt in jeder andern Art

Das Recht, wenn Gottes Sohn um euretwillen
Nicht demuthsvoll dem Fleische sich gepaart. –

121
Jetzt, um noch besser deinen Wunsch zu stillen,

Und daß du seh’st, gleich mir, das volle Licht,
Will ich noch Eins dir deutlicher enthüllen.

124
Ich sehe Feuer, sehe Luft – so spricht[1]

Dein Zweifel – Wasser, Erd’, in mannigfachen
Vermischungen und alle dauern nicht.

127
Geschöpfe sind ja alle diese Sachen;

Und sollte dies, wenn ich dich recht verstand,
Sie nicht vor der Verderbniß sicher machen?

130
Die Engel, Bruder, und dies reine Land,

Sie dürfen wohl sich für erschaffen halten,
Weil, wie sie sind, ihr volles Sein entstand;

133
Doch Alles, was die Element’ entfalten,

Die Elemente selbst, sie läßt allein
Der Höchste durch geschaff’ne Kraft gestalten.

136
Geschaffen ward ihr Stoff, ihr erstes Sein,

Geschaffen ward die Bildungskraft dem Tanze
Der Sterne, die um eure Welt sich reihn.

139
Die Seele jedes Thiers und jeder Pflanze

Zieht nach verschiedner Bildungsfähigkeit
Regung und Licht aus ihrem heil’gen Glanze.

142
Jedoch der höchsten Güte Hauch verleiht

  1. 124. V. 67 hat Beatrice den Satz aufgestellt: daß Alles, was Gott unmittelbar erschaffen, nicht sterbe. Sie beseitigt in dem Folgenden einen Einwand, den man ihr machen könnte, da man so vieles Erschaffene vergehen sieht. Das, was untergeht, ist nicht von Gott unmittelbar, sondern mittelbar durch die Kräfte erschaffen, die er, wie wir früher erfahren, den Sternen mitgetheilt hat. Der Menschenleib dagegen, da er in den ersten Eltern von Gott unmittelbar erschaffen wurde, ist gleich der Seele unsterblich, und wird einst beim Weltgericht aus dem Grabe erstehen, um sich wieder mit der Seele zu verbinden, [13, 62; 14, 37 ff.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_439.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)