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Doch weil den Engeln Jene, die ihr Sein

Auf Erden dort in Schulen euch erklären,
Verstand, Erinnerung und Willen leihn,

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So zeig’ ich, um dich völlig zu belehren,

Dir noch die Wahrheit rein und unbefleckt,
Die Jene dort verwirren und verkehren.

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Die Wesen, die des Anschauns Lust geschmeckt,

Verwenden nie den Blick vom ew’gen Schimmer
Des Angesichts, in dem sich nichts versteckt.

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Drum unterbricht das Neu’ ihr Schauen nimmer,

Drum brauchen sie auch die Erinn’rung nicht,
Denn ungetheilt bleibt ja ihr Denken immer. –

82
So träumt ihr unten wach beim Tageslicht;[1]

Ihr glaubt und glaubt auch nicht, was ihr verbreitet,[2]


  1. [82 ff. Der Zusammenhang geht auf V. 70–75 zurück. An diese Verse in Gedanken anknüpfend, kommt Beatrix auf die, in den Streitigkeiten über den vorliegenden und andere Punkte, damals wie jetzt noch hervortretende Sucht nach gelehrtem Scheinwesen (V. 86. 87.), welches nicht den einen Weg der ächten Wahrheitsforschung geht (V. 85) und oft die tiefere Ueberzeugung selbst verläugnet (V. 82–84). Hierbei hat sie zunächst die Philosophie, das freie Denken im Auge. – Aber noch viel verdammlicher, fährt sie in V. 88 ff. fort, ist jene Sucht bei der Theologie, welche es mit der Schrift zu thun hat, welche, will sie offenbar sagen, mit ihrem Denken und Forschen an die h. Schrift gebunden ist. – Und das Allerschlimmste ist, daß diese nutzlose Scheingelahrtheit und frevelhafte Schriftverdrehung der Theologen durch die Predigt unter das Volk kommt (V. 94–96); daß diesem statt des theuer erkauften Gotteswortes, unsrer höchsten und erhabenen Glaubensregel (V. 91–93), windige Fräglein, wo nicht Possen zur Nahrung geboten werden, eine Praxis, die nur auf absichtliche Verdummung und Urtheilslosigkeit der Gemeinde gegenüber jeder Priesterlehre und Priesterzumuthung, besonders dem Ablaß, hinausläuft: V. 97–107, 109, 110, 115–126. – So erweitert sich die Stelle zu einer der schneidendsten, man darf sagen: ächt protestantisch gedachten Zeitpredigten, über deren dogmatisch-reformatorische Bedeutung im System unsres Dichters wir in einer Schlußbemerkung noch werden näher zu handeln haben.]
  2. [83. Wörtlich: „glaubend und nicht glaubend, Wahres zu sagen,“ wornach Streckfuß und Philalethes, oder „glaubend und nicht glaubend, daß (obige Lehre) Wahres sage,“ d. h. jener Lehre beistimmend oder entgegenstimmend, wornach Witte und Notter übersetzen. Im letzteren Falle konnte dann V. 85 auch blos heißen: „ihr geht nicht eines Weges etc.,“ was, wie Notter mit Recht bemerkt, an sich kein vernünftiger [580] Vorwurf gegen die Philosophie wäre. Ueberhaupt wäre dann der Gesichtskreis der Worte allzu eng nur auf die Engellehre beschränkt und nicht wohl ersichtlich, weshalb D. über diesen untergeordneten Punkt so in Eifer gerathen sollte. Wir möchten uns daher für die erste, weitere, zu 82 ff. ausgeführte, Auffassung entscheiden.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_579.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)