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82
Und sieh, es kam ein Mann zu Schiff herbei,

Ein Greis, bedeckt mit schneeig weißen Haaren.
„Weh euch, Verworfne!“ tönte sein Geschrei.

85
„Nicht hofft, den Himmel jemals zu gewahren.

Ich komm’, euch jenseits hin an das Gestad,
In ew’ge Nacht, in Hitz’ und Frost zu fahren.

88
Und du, lebend’ge Seele, die genaht,

Mußt dich von diesen, die gestorben, trennen!“ –
Dann, da er sah, daß ich nicht rückwärts trat:

91
„Hier kann ich dir den Uebergang nicht gönnen,[1]

Für dich geziemen andre Wege sich,
Ein leichtrer Kahn nur wird dich tragen können.“[2]

94
Virgil drauf: „Charon, nicht erboße dich.

Dort, wo der Wille Macht ist, ward’s verhangen; (bei Gott)
Dies sei genug, nicht weiter frage mich.“

97
Hierauf ließ ruhen die bewollten Wangen

Des fahlen Sumpfs erzürnter Steuermann,
Deß Augen Flammenräder rings umschlangen.

100
Da hob graunvolles Zähneklappen an,

Und es entfärbten sich die Tiefgebeugten,
Seit Charon jenen grausen Spruch begann.

103
[23] Sie fluchten Gott, und denen, die sie zeugten,

Dem menschlichen Geschlecht, dem Vaterland,
Dem ersten Licht, den Brüsten, die sie säugten.

106
Dann drängten sie zusammen sich am Strand,

Dem schrecklichen, zu welchem Alle kommen,
Die Gott nicht scheu’n, und laut Geheul entstand.

109
Charon, mit Augen, die wie Kohlen glommen,

Winkt ihnen, und schlug mit dem Ruder los,
Wenn einer sich zum Warten Zeit genommen.

112
Gleich wie im Herbste bei des Nordwinds Stoß

Ein Blatt zum andern fällt, bis daß sie alle
Der Baum erstattet hat dem Erdenschoß;

115
So stürzen, hergewinkt, in jähem Falle

Sich Adams schlechte Sprossen in den Kahn,
Wie angelockte Vögel in die Falle.

118
Durch schwarze Fluten geht des Nachens Bahn,

Und eh sie noch das Ufer dort erreichen,
Drängt hier schon eine neue Schaar heran.

121
„Mein Sohn,“ sprach mild der Meister, „die erbleichen

In Gottes Zorne, werden alle hier
Am Strand vereint aus allen Erdenreichen.

124
Man scheint zur Ueberfahrt sehr eilig dir,

Doch die Gerechtigkeit treibt diese Leute[3]

Und wandelt ihre bange Furcht in Gier.
127
Kein guter Geist macht diese Fahrt; und dräute[4]

  1. [91.[WS 1] – Es sei hier ein für allemal des reichlichen Gebrauchs [23] mythologischer Gestalten gedacht, den Dante besonders in der Hölle macht. Die Höllenflüsse der Alten, der Fährmann Charon, Cerberus, der Höllenhund, Plutos, Giganten etc. treten auf. Sie sind aber nicht blos poetische Bilder oder technische Ausschmückung, noch allegorische Symbole, sondern als wirkliche Dämonen, als gefallene Engel, frei aufgefaßt. Denn das Mittelalter sah in der Mythologie nicht bloße Phantasie, sondern eine verirrte Auffassung der wirklichen Wahrheit.]
  2. 93. Dante ist nicht, wie die andern, ein leichter Schatten, er bringt vielmehr den schweren Leib mit zum Acheron. Durch dessen Last würde der nur auf Schatten eingerichtete Kahn versinken. Wie wir überhaupt die große plastische Kunst des Dichters bewundern müssen, die oft durch einzelne scheinbar nur nebenbei angebrachte Verse ein lebendiges Bild vollendet, so sehen wir hier den zornig scheltenden Alten, der, sprechend, mit dem Munde zugleich Kinnladen, Wangen und Bart heftig bewegt, in dem Ruhen dieser Bewegung meisterhaft dargestellt, ohne daß jene Bewegungen beschrieben worden wären.
  3. 125. Was wir oben bei V. 34 u. ff. bemerkt, ist auch hier bestätigt. Das Gewissen selbst treibt den Sünder der Strafe entgegen, so sehr er sich vor ihr fürchtet. Und sollte der Trieb des Gewissens nicht kräftig genug sein, so weiß die Vorsehung den Charon zu finden, der auf die Säumigen mit dem Ruder losschlägt, um sie dem verdienten Lohne zuzutreiben (V 110 u. 111). Zwischen beiden Stellen ist nur beim ersten oberflächlichen Anblicke ein Widerspruch.
  4. [127. D. h. Kein wahrhafter Christ. Denn die edelsten Heiden müssen auch hinüber s. Ges. 4.]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Reihenfolge der vertauschten Anm. zu V. 91 und V. 93 korrigiert.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 22 bzw. 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_022023.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)