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Daß Fleisches-Sünder dies erdulden müßten,

Vernahm ich, die, verlockt vom Sinnentrug,
Einst unterwarfen die Vernunft den Lüsten.

40
So wie zur Winterszeit mit irrem Flug[1]

Ein dichtgedrängter breiter Troß von Staaren,
So sah ich hier im Sturm der Sünder Zug

43
Hierhin und dort, hinauf, hinunter fahren,

Gestärkt von keiner Hoffnung, mindres Leid,
Geschweige jemals Ruhe zu erfahren.

46
Wie Kraniche, zum Streifen lang gereiht,

In hoher Luft die Klagelieder krächzen,
So sah ich von des Sturms Gewaltsamkeit

49
Die Schatten hergeweht mit bangem Aechzen.

„„Wer sind die, Meister, welche her und hin
Der Sturmwind treibt, und die nach Ruhe lechzen?““

52
So ich – und Er: „Des Zuges Führerin,

Von welchem du gewünscht Bericht zu hören,
War vieler Zungen große Kaiserin.

55
Sie ließ von Wollust also sich bethören,

Daß sie für das Gelüst Gesetz’ erfand.[2]
Daß Schimpf und Schand’ an ihr die Macht verlören.

58
Sie ist Semiramis, wie allbekannt,

Nachfolgerin des Ninus, ihres Gatten,
Die einst geherrscht hat in des Sultans Land.

61
Dann sie, die, ungetreu Sichäus Schatten,

Aus Liebe selber sich geweiht dem Tod,
Sieh dann Kleopatra im Flug ermatten.“

64
Auch Helena, die Ursach’ großer Noth,

Im Sturme sah ich den Achill sich heben,
Der Allem Trotz, nur nicht der Liebe, bot.

67
[33] Den Paris sah ich dort, den Tristan schweben,

Und tausend Andre zeigt’ und nannt’ er dann,
Die Liebe fortgejagt aus unserm Leben.

70
Lang’ hört’ ich den Bericht des Lehrers an,

Von diesen Rittern und den Frau’n der Alten,
Voll Mitleid und voll Angst, bis ich begann:

73
„„Mit diesen Zwei’n, die sich zusammen halten,

Die, wie es scheint, so leicht im Sturme sind
Möcht’ ich, o Dichter, gern mich unterhalten.““

76
Und er darauf: „Gib Achtung, wenn der Wind

Sie näher führt, dann bei der Liebe flehe,
Die Beide führt, da kommen sie geschwind.“

79
Kaum waren sie geweht in unsre Nähe,

Als ich begann: „„Gequälte Geister, weilt,
Wenn’s niemand wehrt, und sagt uns euer Wehe.““[3]

82
Gleich wie ein Taubenpaar die Lüfte theilt,

Wenn’s mit weit ausgespreizten steten Schwingen
Zum süßen Nest herab voll Sehnsucht eilt;

85
So sah ich Dido’s Schwarm sie sich entringen,

Bewegt vom Ruf der heißen Ungeduld,
Und durch den Sturm zu uns sich niederschwingen.

88
„Du, der du uns besuchst voll Güt’ und Huld[4]

In purpurschwarzer Nacht, uns, die die Erde


  1. 40. [Dem Leser sind die häufigen, ächt epischen Gleichnisse nicht entgangen, zu deren schönsten, wahrhaft homerischen, die folgenden zählen. Ebenso V. 82 ff. 13, 40 ff. 26, 25 u. a. m.]
  2. 56. Semiramis soll, um eine unerlaubte Neigung für ihren Sohn zu befriedigen, durch ein Gesetz die Ehe zwischen Mutter und Sohn erlaubt haben. In der Uebersetzung ist der Versuch gemacht worden, den Anklang zwischen dem libito und licito des Originals durch Gelüst und Gesetz wiederzugeben.
  3. [33] 81. Niemand etc. d. h. Gott, dessen Name in der Hölle nicht genannt wird.
  4. 88. Der Schatten der hier spricht, ist Franziska, die Tochter Guido’s von Polenta, welcher den verbannten Dante aufnahm. Ihr Vater zwang ihr den Johann Malatesta betrüglicher Weise zum Gatten auf statt ihres Geliebten Paolo, des Bruders des Johann. Mit diesem überraschte sie Jener im Verbrechen und tödtete Beide. Wenn nach den Lehren der Kirche Jeder, der im Vergehen und ohne dasselbe vorher bereut zu haben, stirbt, verdammt ist, so mußte Dante die unglückliche Franziska für verdammt halten. Aber der strenge Geist des Dichters fühlt doch für die Tochter seines Wohlthäters eine Theilnahme, die um so rührender ist, je seltener wir ihn, wenigstens in diesem ersten Theile, von einem ähnlichen weichen Gefühle durchdrungen sehen. Uebrigens brauchen wir auf die große dichterische Schönheit dieser berühmten Darstellung, eine Perle des ganzen Werks, wohl keinen Leser des Dante aufmerksam zu machen. Als bezeichnend für die Sitte der Zeit und den Charakter des Dichters muß es betrachtet werden, daß er kein Bedenken fand, noch bei Lebzeiten seines Wohlthäters und wohl jedenfalls nicht ohne Vorwissen desselben dies bekannt zu machen.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 32 bzw. 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_032033.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)