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103
Doch naht sich und erscheint, was wir erspäht,

Weg ist das Wissen, und nur durch Berichte
Erfahren wir, wie’s jetzt auf Erden steht.

106
Darum begreifst du: einst beim Weltgerichte,

Wenn sich der Zukunft Thor auf ewig schließt,
Ganz wird dann unser Willen sein zu nichte.“

109
Drauf ich: „„Wie jetzt mein Fehler mich verdrießt![1]

O sagt dem Hingesunknen, Trostentblößten,
Daß noch sein Sohn das heitre Licht genießt.

112
Und war ich vorhin säumig, ihn zu trösten,

So sagt ihm, daß ich Raum dem Irrthum gab,
Den eben jetzt mir eure Worte lösten.““

115
Hier rief mein Meister schon mich wieder ab,

Drum bat ich schnell den Geist, mir zu erzählen,
Wer noch verborgen sei in seinem Grab.

118
Er sprach: „Hier liegen mehr als tausend Seelen,

Der Kardinal, der zweite Friederich,[2]
Und Andre, die’s nicht Noth thut, aufzuzählen.“

121
Und er versank, ich aber kehrte mich

Zum alten Dichter, jene Red’ erwägend,
Die einer Unglücks-Prophezeiung glich.[3]

124
Er aber ging und sprach, sich vorbewegend,

Zu mir gewandt: „Was bist du so verstört?“
Ich that’s ihm kund, die Angst im Herzen hegend.

127
„Behalte, was du Widriges gehört,“

Sprach mit erhobnem Finger jener Weise,
„Und merk’ jetzt auf, daß dich kein Trug bethört.

130
[61] Bist du dereinst in Ihrem Strahlenkreise,

Die mit dem schönen Auge Alles sieht,
Dann deutet sie dir deine Lebensreise.“

133
Nun ging es links ins höllische Gebiet,

Um von der Mau’r der Mitte zuzuschreiten,
Wo sich der Pfad nach einem Thale zieht,

136
Von dem Gestank und Qualm sich weit verbreiten.
_______________

Eilfter Gesang.
Papst Anastasius. Eintheilung der weitern Kreise.

1
Am äußern Saum von einem hohen Strande,

Umkreist von Felsentrümmern ohne Zahl,
Gelangten wir zu einem grausern Lande.

4
Dort bargen wir vor des Gestankes Qual,[4]

Der gräßlich dampft aus jenen tiefen Gründen,
Uns hinter eines hohen Grabes Maal.

7
Wir sahn den Inhalt diese Schrift verkünden:

Hier liegt Papst Anastasius, den Photin [5]
Vom rechten Pfad verführt zu Schmach und Sünden.


  1. 109. Der Dichter hat dem Cavalcante nach V. 70 nicht sofort über das Leben seines Sohnes Auskunft gegeben, weil er irrig geglaubt, die Geister müßten, wie sie das Künftige voraussehen, auch die Gegenwart erkennen. Jetzt trägt er dem Farinata auf, sein Schweigen mit diesem Irrthume zu entschuldigen.
  2. 119. Der Kardinal Octavian degli Ubaldini, verdächtig, im Herzen ein Ghibellin gewesen zu sein. – Friedrich II., sonst dem Dichter hochverehrt, wird im ganzen Mittelalter mit Recht oder Unrecht beschuldigt, ein Atheist, Spötter und Epicuräer gewesen zu sein. Daher sein Platz.
  3. 123. Die Prophezeiung der Vorgänge des Jahres 1304, während seiner Verbannung. Hierauf weist ihn Virgil auf klareren Bescheid V. 130, im Paradies, wo auf ihren Auftrag (der Beatix) ihm klarer geweissagt wird (Ges. 17).
  4. [61] XI. 4. Der Gestank kommt von dem Blutstrome in der ersten Abtheilung des nächsten Kreises, in welchem diejenigen büßen, welche gegen den Nächsten Gewalt verübten.
  5. [8. Papst Anastasius II. (um 497 lebend) ist der erste der vielen Päpste, welche Dante in die Hölle verdammt hat und welchen wir noch begegnen werden. – Durch seine Verdammung speciell will Dante darthun, daß auch ein Papst ein Ketzer, ein Irrlehrer sein könne und daß dies bei einem so mächtigen Mann nahe an Gewaltthat grenze. Daher locirt er diesen Papst hier auf die Marke zwischen den Ketzern und Gewaltthätigen. Also keine persönliche Unfehlbarkeit! Welch’ eine großartige Gesinnungsreife dies von einem Mann des 13. Jahrhunderts, einem guten Katholiken, wie Dante, bekundet, vermag der Leser zu ermessen und vgl. dazu fortlaufend die, schon in der Vorbem. zu Ges. 1. S. 6 genannten Stellen, welche nun alle der Reihe nach diese seine Anschauung nach allen Seiten ausführen. – In Beziehung auf Anastasius selbst aber befand sich unser Dichter in einem historischen Irrthum, was wir nur kurz anfügen. Eine Ketzerei läßt sich ihm nicht nachweisen; sondern, in den christologischen Kampf des Morgen- und Abendlandes verwickelt, wurde seine versöhnliche Haltung, auf die der Diacon Photin von Thessalonich einwirkte, von der Gegenpartei fanatisch verketzert und sein plötzlicher Tod zu der Fabel eines [62] Gottes-Strafgerichts verzerrt – was Dante ungeprüft annahm. – Dante war, wie nach Durchlesen der göttl. Kom. über alles klar ist, ein Polyhistor von großartigster Dimension des Wissens. Die göttl. Kom. ist in dieser Hinsicht eine bewundernswerthe Encyclopädie aller damaligen Gelehrsamkeit, eine grandiose Revue der Vergangenheit und Gegenwart. Im richtigen Blick hierauf verschwinden einzelne kleine Irrthümer! –]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 60 bzw. 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_060061.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)