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So war ich jetzt bei dem, was er gesagt,

Doch machte mich die Scham, gleich einem Knechte,
Wenn ihm ein güt’ger Herr droht, unverzagt.

91
Drum setzt’ ich auf dem Unthier mich zurechte.

Und bitten wollt’ ich (doch erstarb der Ton),
Daß er mich fest mit seinem Arm umflechte.

94
Doch Er, der oft bei der Dämonen Drohn

Mich unterstützt und der Gefahr entzogen,
Umfaßte mich mit seinen Armen schon.

97
Und sprach: „Geryon, auf! Nun fortgeflogen!

Allein bedenke, wen dein Rücken trägt,[1]
Drum steige sanft hinab in weiten Bogen.“

100
Wie rückwärts sich vom Strand der Kahn bewegt,[2]

Schob sich’s vom Damm, doch, kaum hinabgeklommen,
Ward dann im freien Spielraum umgelegt.

103
Als, wo die Brust war, nun der Schweif gekommen,

Ward dieser, wie ein Aalschweif ausgestreckt,
Und mit dem Tatzenpaar die Luft durchschwommen.

106
So, glaub’ ich, war nicht Phaëton erschreckt,

Als einst die Zügel seiner Hand entgingen,
Beim Himmelsbrand, deß Spur man noch entdeckt;[3]

109
Noch Icarus, als von erwärmten Schwingen

Das Wachs herniedertropft’, bei Dädal’s Schrei’n:
„Dein Weg ist schlecht, dein Flug wird nicht gelingen;“ –

112
[99] Wie ich, nichts sehend, als das Thier allein,

Und rings umher von öder Luft umfangen,
Wo nie entglomm des Lichtes heitrer Schein.

115
Daß wir uns langsam, langsam niederschwangen,

Im Bogenflug, bemerkt’ ich nur beim Wehn
Der Luft von unten her an Stirn und Wangen.

118
Rechts hört’ ich schon das Wirbeln und das Drehn

Des Wasserfalls und sein entsetzlich Brausen,
Und bog mich vorwärts, um hinabzusehn.

121
Doch schüchtern wieder bei des Abgrunds Sausen,

Bei Klag’ und Glut, die ich vernahm und sah,
Duckt’ ich mich hin und zitterte vor Grausen.

124
Was ich erst nicht gesehn, das sah ich da:

Wie wir im weiten Kreis hinunterstiegen,
Und sah mich überall den Qualen nah.

127
Gleichwie ein Falk, wenn er nach langem Wiegen

In hoher Luft nicht Raub noch Lockbild sieht,
Und ihn der Falkner ruft, herabzufliegen,

130
So schnell er stieg, so langsam niederzieht,

Dann, zürnend seinem Herrn, auf luft’gen Pfaden
Im Bogenflug zum fernsten Baume flieht;

133
So setzt’ uns an den steilen Felsgestaden

Geryon ab und flog in großer Eil’,
Sobald er nur sich unsrer Last entladen,

136
Hinweg, gleich einem abgeschnellten Pfeil.
_______________

Achtzehnter Gesang.
VIII. Kreis. 1. u. 2. Bulge. Kuppler und Schmeichler.

1
Ein Ort der Hölle, namens Uebelsäcken,[4]

Ist eisenfarbig, ganz erbaut von Stein,


  1. 98. Erinnerung, daß es kein Schatten, sondern ein gewichtiger irdischer Leib sei, welchen Geryon herunterbringen soll. Um ihn sanft abzusetzen, muß er daher nicht gerade aus, sondern im Bogen herunterfliegen.
  2. [100 ff. Die Plastik und Anschaulichkeit in der Ausmalung dieser Abfahrt gehört zu den Meisterstücken aller Poesie und die Uebersetzung der Stelle zu den meisterhaftesten Leistungen von Streckfuß.]
  3. 108. Die Milchstraße soll, nach der Mythe, Phaëtons unglücklichen Weg bezeichnen.
  4. [99] XVIII. 1. Uebelsäcken, im Original: Malebolge. Bolgia heißt ein Felleisen, ein Mantelsack. Diesen Namen gibt Dante den zehn Abtheilungen des achten Kreises, in welchen die verschiedenen Gattungen des Betrugs bestraft werden, wahrscheinlich um deshalb, weil er sie als lange enge Schlünde beschreibt, und in dieser Gestalt Aehnlichkeit mit einem Mantelsack, folglich wohl auch mit einem gewöhnlichen Sacke findet. Da die Benennung Malebolge im Italienischen einen bestimmten [100] Begriff erweckt, so hat der Uebersetzer geglaubt, sie durch ein Wort wiedergeben zu müssen, welches einen ähnlichen Begriff ausdrückt. Ganz dasselbe Bild gibt es allerdings nicht wieder, weil ein Sack nicht, wie ein liegendes Felleisen, der Länge nach oben geöffnet ist. Indessen ist kein passenderes und zugleich deutliches Bild, welches auch schicklich einen Ortsnamen abgeben könnte, zu finden gewesen. Das Bild des Ortes selbst, wie es zum achtzehnten Verse gezeichnet ist, wird hoffentlich bei aufmerksamer Betrachtung deutlich genug hervortreten und jede Erläuterung unnöthig machen, [vgl. noch V. 69, 70, 100–103].
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 98 bzw. 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_098099.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)