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Als Führer Einen durch die Hölle bringen.“

85
Der Haken fiel, da dieses Wort erscholl,[1]

Ihm aus der Hand, so hatt’ ihn Furcht durchschauert.
„Gesellen,“ rief er aus, „laßt euren Groll!“

88
„Du, der dort zwischen Felsenstücken kauert,“

Rief nun mein Meister, „eile zu mir her,
Da jetzt kein Feind mehr auf dem Wege lauert.“

91
Und vorwärts trat ich und kam schnell daher,

Doch sah ich vorwärts auch die Teufel fahren,
Als gelte nichts die Uebereinkunft mehr;

94
Und war voll Schrecken, wie Caprona’s Schaaren,

Die, dem Vertrag zum Trotz, dem Tode nah,[2]
Als sie die Festung übergeben, waren.

97
Fest drängt’ ich mich an meinen Führer da,

Und hielt den Blick gespannt auf ihre Mienen,
Aus denen ich nichts Gutes mir ersah.

100
Und diese Rede hört’ ich zwischen ihnen:

„Den Haken ihm ins Kreuz? Was meinst du? sprich!“
Der Andre: „Ja, du magst ihn nur bedienen!“

103
Doch jener Geist, der mit dem Meister sich

Besprochen, wandte schleunig sich zurücke,
Und rief: „Still, Raufbold, ruhig halte dich.“

106
Und dann zu uns: „Auf diesem Felsenstücke[3]

[121] Kommt ihr nicht weiter, denn im tiefen Grund
Liegt längst zertrümmert schon die sechste Brücke.

109
Und wollt ihr fort, geht oben, längs dem Schlund,

Dann seht ihr vorwärts einen Felsen ragen,
Und kommt darauf bis zu dem nächsten Rund.

112
Denn gestern, um euch Alles anzusagen,

War’s grad zwölfhundert sechs und sechszig Jahr,
Seit jenen Weg ein Erdenstoß zerschlagen.

115
Dorthin entsend’ ich ein’ge meiner Schaar,

Um Sündern, die sich lüften, nachzuspüren;
Mit ihnen geht, und fürchtet nicht Gefahr.

118
Auf, ihr Gesellen, jetzt, euch frisch zu rühren!

Eistreter, Senkflug, Bluthund, kommt heran,
Du, Sträubebart, sollst alle Zehen führen.[4]

121
Auf Drachenblut, Kratzkrall’ und Eberzahn,

Scharfhaker, und auch du, Grimmroth der Tolle,
Und Fledermaus, schickt euch zum Wandern an.

124
Schaut, wer etwa im Pech auftauchen wolle,

Doch wißt, daß dieses Paar in Sicherheit
Bis zu der nächsten Brücke reisen solle.“

127
„„Ach, guter Meister,““ rief ich, „„welch’ Geleit?

Ich, meinerseits, ich will es gern entbehren,
Und bin mit dir allein zu gehn bereit.


  1. 85. Der erste Eindruck, welchen Virgil mit seiner Eröffnung hervorbringt, ist ungefähr derselbe, welchen ein im Rufe unbestechlicher Strenge stehender hochfürstlicher Untersuchungs-Commissarius durch Vorzeigung seiner Vollmacht auf irgend eine bepichte Behörde zu machen pflegt. Aber wir sehen, daß der erste Schrecken bald vorüber ist, und die Hoffnung auflebt, sich des Bevollmächtigten durch Gewalt oder List wieder zu entledigen.
  2. 95. Caprona, ein Schloß der Pisaner, welches diesen von den Luchesen unter Beistand der toscanischen Guelfen abgenommen worden war. Die Pisaner belagerten nachher das Schloß und zwangen die Besatzung zur Uebergabe, versprachen ihr aber Schonung des Lebens. Indessen konnten die wüthenden Belagerer nur mit Mühe abgehalten werden die wehrlosen Luchesen zu ermorden, sobald diese die Festung verlassen hatten.
  3. 106. [Maaßgebende Stelle für die Zeitbestimmung der Höllenwanderung Dante’s.] Christus starb im vierunddreißigsten Jahre, also war es, da Dante seine Reise ins Jahr 1300 verlegt, 1266 Jahre, seit das Erdbeben bei Christi Tode die Brücke zertrümmerte. (Vgl. Ges. 12 V. 34 ff.) Uebrigens betrügt der Teufel, wie wir in [121] der Folge sehen werden, die Dichter, indem er versichert, nur die Fortsetzung dieser Felsenbrücke, auf welcher sie sich eben befanden, sei eingestürzt, und sie würden, wenn sie auf dem Damme entlang des Schlundes fortgingen, weiterhin eine andere finden. Aber alle Brücken über die sechste Abtheilung sind, wie wir weiterhin Ges. 23 V. 136 erfahren, eingestürzt. Welchen Zweck diese Lüge habe, ist nicht zu erkennen. Höchstens kann die Absicht dahinter verborgen sein, die Dichter eine lange Zeit vergeblich nach der Brücke suchen und sie einen Theil des Kreises umgehen zu lassen. Aber eben deshalb ist der Zug charakteristisch. Denn wer einmal in Lügen verstrickt ist, lügt auch dann, wenn er ohne Schaden die Wahrheit sagen konnte und von den Lügen keinen weitern Vortheil hat, als Befriedigung seiner schlechten Neigung, oder höchstens einen sehr kurzen Aufschub umvermeidlicher Entdeckung.
  4. 120. Die originellen Teufelsnamen sind so gut es geht übertragen. Möglich, daß der Dichter, indem er eben zehn Teufel auswählt und den Sträubebart (Barbariccia) zu ihrem Führer macht, irgend eine aus so viel Personen bestehende hohe Rathsversammlung seiner Zeit im Sinne gehabt und sie durch diese Zahl und die Aehnlichkeit des Anführers mit ihrem Präsidenten bezeichnet habe.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 120 bzw. 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_120121.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)