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Die andern Beiden, ihn betrachtend, schrien:

„Weh dir, Agnel, du bist nicht Zwei, nicht Einer!
Doch sieh, dir ist ein andres Bild verliehn!“

70
Schon war vereint der Schlange Kopf und seiner,

Aus zwei Gestalten sah man ein’ entstehn,
Vermischt, verwirrt, doch gleich von Beiden keiner.

73
Vier Streifen bildeten der Arme zween,

Und Bauch und Brust und Beine sammt den Lenden,
Sie wurden Glieder, wie man nie gesehn.

76
Es schien, als ob die vor’gen ganz verschwänden.

Nicht Zwei, nicht Einer schien’s, und ganz entstellt
Sah ich das Bild sich langsam abwärts wenden.

79
Gleichwie die Eidechs öfters, wenn die Welt,[1]

Der Hundstern sticht, blitzschnell von Dorn zu Dorne,
Von Zaun zu Zaun quer durch die Straße schnellt,

82
So fuhr jetzt eine Schlang’ im wilden Zorne

Schnell den zwei Andern nach dem Wanste hin,
Bläulich und schwarz, gleich einem Pfefferkorne.

85
Und durch den Theil, der bei des Seins Beginn

Uns Nahrung zuführt, bohrte sie den Einen,
Dann fiel sie ausgestreckt vor ihm dahin.

88
An sah er starr sie, mit geschloss’nen Beinen,

Stillschweigend, gähnend, und er mußte mir
Wie schläfrig oder fieberhaft erscheinen.

91
Nach ihm hin sah die Schlang’ und er nach ihr,

Sie rauchen aus dem Maul, er aus der Wunde –
Es kreuzte sich der Dampf von dort und hier.

94
Still schweige jetzt Lucan mit seiner Kunde[2]

[143] Vom Unglück des Sabell und vom Nasid,
Und horchend häng’ er nur an meinem Munde.

97
Von Arethus’ und Kadmus schweig’ Ovid,

Denn wenn er ihn zum Drachen umgedichtet,
Und sie zum Quell, so neid’ ich nicht sein Lied;

100
Nie hat er von zwei Wesen uns berichtet,

Die umgetauscht Gestalt und Stoff und Sein,
Indem sie starr auf sich den Blick gerichtet.

103
Gleich ging die Wandlung fort in jenen Zwei’n.

Zur Gabel spaltete den Schwanz die Schlange,
Und dem Gestochnen klebte Bein an Bein.

106
Sie wuchsen an einander, und nicht lange

Hatt’ es gewährt, als auch die Fuge schwand
Verdrängt vom völligen Zusammenhange.

109
Der Lenden Form, die dort entwich, entstand

Am Gabelschweif; und ihre Haut erweichen;
Sah ich, die seine ringsum hart gespannt.

112
Ihm sah die Arm’ ich in die Schultern weichen,

Der Schlange kurze Vorderfüße dann,
Wie jene schwanden, weiter vorwärts reichen.

115
Wie drauf zu jenem Gliede, das der Mann,

Zu bergen pflegt die hintern sich verbanden,
So fing sich seins in zwei zu theilen an.

118
Und unterm Rauch, der beide deckt’, entstanden

Ganz neue Farben, sproßten Haare vor,
Und zeigten hier sich, wo sie dort verschwanden.

121
Er sank dahin, sie raffte sich empor,

Die Köpfe sahn sich an mit grimmen Blicken,
Dann trat in diesem jenes Form hervor:

124
An dem, der stand, schien er sich breit zu drücken,[3]

Auch sah man von dem Fleisch, das rückwärts drang,
Die Ohren seitwärts aus den Wangen rücken.

127
Aus dem, was vorn zurückeblieb, entsprang,

Wie solchem Antlitz sich’s gebührt, erhoben,
Ein Lippenpaar; die Nas’ auch zog sich lang.


  1. 79. Nachdem eine Schlange, einst ein Dieb, einen andern Dieb, der in menschlicher Gestalt gekommen, am Nabel verletzt hat und dann vor ihn hingefallen ist, dringt aus dem Maule der Schlange und aus der Wunde des Gebissenen Rauch, und indem sie sich ansehen, vertauschen Glied um Glied der Mensch und die Schlange ihre Gestalten. Der Mann wird zur Schlange, die Schlange zur Mannesgestalt, V. 103–141. [Diese gräßliche Schilderung gehört zu denjenigen, in welchen – mit Goethe zu reden – Dante’s „abscheuliche Großheit“ heraustritt. Aber bewundernswerth bleibt immerhin die unerhörte Lebenskraft der Erfindung wie der Darstellung eines solchen Vorgangs in den untersten Höllenräumen.]
  2. 94. In den Pharsalien des Lucan werden Sabell und Nasid, Soldaten Cato’s, beim Zuge durch Libyens Wüsten von Schlangen gestochen. [143] Der Erstere löst sich nach dem Schlangenbisse ganz in Asche auf – der Andere schwillt so an, daß sein Harnisch platzt und von menschlicher Gestalt nichts mehr zu erkennen ist.
  3. [124. Die zum Menschen gewordene Schlange.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 142 bzw. 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_142143.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)