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dabei sein, was die Hunde veranlasst, in der Nacht und besonders bei Mondschein in einer so merkwürdigen und melancholischen Weise zu heulen. Es thun dies nicht alle Hunde; nach Houzeau[1] sehen sie dabei nicht den Mond an, sondern einen bestimmten Punkt am Horizont. Houzeau glaubt, dass ihre Vorstellungen durch die undeutlichen Umrisse der umgebenden Gegenstände gestört werden, wodurch phantastische Bilder vor ihnen heraufbeschworen werden. Ist dies der Fall, dann könnte man ihre Empfindungen beinahe abergläubisch nennen.

Unter allen Fähigkeiten des menschlichen Geistes steht, wie wohl allgemein zugegeben wird, der Verstand obenan. Es bestreiten nur wohl wenige Personen noch, dass die Thiere eine gewisse Fähigkeit des Nachdenkens haben. Fortwährend kann man sehen, dass Thiere zuwarten, überlegen und sich entschliessen. Es ist eine bezeichnende Thatsache, dass je mehr die Lebensweise irgend eines besonderen Thieres von einem Naturforscher beobachtet wird, dieser ihm desto mehr Verstand zuschreibt und desto weniger die Handlungen nicht gelernten Instincten beilegt.[2] In späteren Capiteln werden wir sehen, dass Thiere, welche äusserst niedrig in der Stufenleiter stehen, offenbar einen gewissen Grad von Verstand zeigen. Es ist ohne Zweifel oft schwierig, zwischen den Aeusserungen des Verstandes und denen des Instincts zu unterscheiden. So bemerkt Dr. Hayes in seinem Werke über „das offene Polarmeer“ wiederholt, dass seine Hunde, statt die Schlitten in einer compacten Masse zu ziehen, auseinandergiengen und sich trennten, wenn sie auf dünnes Eis kamen, so dass ihr Gewicht gleichmässiger vertheilt wurde. Dies war oft das erste Warnungszeichen, welches die Reisenden erhielten, dass das Eis dünn und gefährlich wurde. Handelten nun die Hunde nach der Erfahrung jedes einzelnen Individuums so oder nach dem Beispiele der älteren und gescheidteren Hunde oder nach einer ererbten Gewohnheit, d. h. nach einem Instincte? Dieser Instinct könnte wohl in jener Zeit entstanden sein, als vor langen Jahren Hunde zuerst von den Eingeborenen dazu benutzt wurden, Schlitten zu ziehen, oder es könnten die arctischen Wölfe, die Urväter der Eskimohunde, diesen Instinct erlangt haben, der sie zwang, ihre Beute nicht in einer geschlossenen Masse anzugreifen, wenn sie sich auf dünnem Eise befanden.


  1. Facultés Mentales des Animaux. 1872. Tom. II., p. 181.
  2. L. H. Morgan’s Buch über „The American Beaver“ 1868 bietet eine gute Erläuterung dieser Bemerkung dar. Ich kann mich indessen der Ansicht nicht erwehren, dass er die Kraft des Instincts viel zu sehr unterschätzt.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/111&oldid=- (Version vom 31.7.2018)