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die Männchen fest angehefteter und im Wasser lebender Thiere dadurch veranlasst wurden, ihr befruchtendes Element auszustossen, so ist es natürlich, dass diejenigen ihrer Nachkommen, welche sich in der Stufenleiter erhoben und die Fähigkeit der Ortsbewegung erlangten, dieselbe Gewohnheit beibehielten; sie werden sich den Weibchen so sehr als möglich nähern, um der Gefahr zu entgehen, dass das befruchtende Element während eines langen Weges durch das Wasser verloren geht. Bei einigen wenigen der niederen Thiere sind die Weibchen allein festgeheftet und in diesen Fällen müssen die Männchen der suchende Theil sein. In Bezug auf Formen, deren Urerzeuger ursprünglich freilebend waren, ist es aber schwer zu verstehen, warum unabänderlich die Männchen die Gewohnheit erlangt haben, sich den Weibchen zu nähern, anstatt von ihnen aufgesucht zu werden. In allen Fällen würde es indessen, damit die Männchen erfolgreich Suchende werden, nothwendig sein, dass sie mit starken Leidenschaften begabt würden; die Erlangung solcher Leidenschaften würde eine natürliche Folge davon sein, dass die begierigeren Männchen eine grössere Zahl von Nachkommen hinterliessen als die weniger begierigen.

Die grössere Begierde des Männchens hat somit indirect zu der viel häufigeren Entwickelung secundärer Sexualcharactere beim Männchen als beim Weibchen geführt. Aber die Entwickelung solcher Charactere wird auch, wie ich nach einem langen Studium der domesticirten Thiere schliesse, noch dadurch bedeutend unterstützt, dass das Männchen viel häufiger variirt als das Weibchen. Nathusius, welcher eine sehr grosse Erfahrung hat, ist entschieden derselben Meinung.[1] Einige gute Belege zu Gunsten dieser Schlussfolgerung kann man durch eine Vergleichung der beiden Geschlechter des Menschen erlangen. Während der Novara-Expedition[2] wurde eine ungeheure Zahl von Messungen der verschiedenen Körpertheile bei verschiedenen Rassen angestellt; und dabei wurde gefunden, dass die Männer in beinahe allen Fällen eine grössere Breite der Variation darboten als die Weiber. Ich werde aber auf diesen Gegenstand in einem späteren Capitel zurückzukommen


  1. Vorträge über Viehzucht, 1872, p. 63.
  2. Reise der Novara: Anthropologischer Theil. 1867, S. 216, 269. Die Resultate wurden nach den von K. Scherzer und Schwarz ausgeführten Messungen berechnet von Dr. Weisbach. Ueber die grössere Variabilität der Männchen bei domesticirten Thieren s. mein „Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication“. 2. Aufl. Bd. 2, S. 85.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/306&oldid=- (Version vom 31.7.2018)