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und verinnerlichen – der ursprüngliche Sinn ließ sich dadurch nicht vollkommen beseitigen. Es war Gefahr vorhanden, und sie trat wirklich ein, daß durch das Alte Testament ein inferiores, überwundenes Element in das Christentum eindrang. Es gilt das nicht nur von Einzelheiten – das ganze Ziel war ein anderes, und die Religion stand dort außerdem in engster Verbindung mit einer politischen Größe, dem Volkstum. Wie nun, wenn man sich verleiten ließ, wiederum eine solche Verbindung zu suchen, zwar nicht mehr mit dem Judentum, aber mit einem neuen Volk, und nicht mit dem alten Volksgesetze, aber mit einem analogen? Und wenn selbst ein Paulus alttestamentliche Gesetze, wenn auch in allegorischer Umgestaltung, dann und wann noch für maßgebend erklärt hat, wer wird seinen Nachfolgern die Grenze ziehen, wenn sie auch noch andere Gesetze, in zeitgemäßer Umformung, als gültige Gottesgebote proklamieren werden? Das führt uns auf das Zweite: mochte selbst das, was man dem Alten Testament an maßgebenden Bestimmungen entnahm, inhaltlich unanstößig sein – es bedrohte die christliche Freiheit, sowohl die innerliche als auch die Freiheit der kirchlichen Gemeindebildung und der kultischen und disciplinären Ordnungen.


Ich habe anzudeuten versucht, daß, nachdem die Verbindung mit dem Judentum zerschnitten war, die Beschränkungen des Evangeliums doch nicht aufhörten, daß vielmehr neue Schranken sich einstellten. Sie entstanden aber an eben den Punkten, an welchen der notwendige Fortschritt der Dinge, bezw. wie bei dem Alten Testament, ein unveräußerlicher Besitz haftete. Auch hier werden wir also daran erinnert, daß es in den geschichtlichen Verhältnissen, sobald die Sphäre der reinen Innerlichkeit verlassen wird, keinen Fortschritt, keinen Erfolg und überhaupt kein Gut giebt, das nicht seinen Schatten hat und Nachteile bringt. Der Apostel Paulus hat klagend ausgerufen: „Unser Wissen ist Stückwerk.“[WS 1] Das gilt in noch viel höherem Grade von unserem Handeln und von allem, was da geschieht. Immer muß man „auf Kosten“ handeln, nicht nur schlimme Folgen auf sich nehmen, sondern auch „wissend, schauend, unverwandt“, das eine vernachlässigen, um das andere zu erreichen. Auch das Reinste und Heiligste, wenn es aus der Innerlichkeit heraustritt und sich in die Welt der Gestaltungen und des Geschehens begiebt, ist von

Anmerkungen (Wikisource)

  1. 1. Kor 13,9.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/121&oldid=- (Version vom 30.6.2018)