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Das Ausland. 1,2.1828


Gerechtigkeit, die erloschenen Gluthen wieder anfacht, erweckt er zugleich in dem Busen seiner Zuhörer jene angenehme innere Aufregung, jenen dramatischen Schrecken, der ihm schnell alle weiblichen Herzen, die gerne gerührt seyn möchten, gewinnt. Mit minderer Anstrengung schmiedete Vulkan dem Könige des Himmels den für das Haupt der Giganten bestimmten Blitz, als hier der heilige Mann die Strafe der Verdammniß auf die Sünder schleudert; die Kanzel dröhnt unter den heftigen Faustschlägen während der Schweiß ihm von der heißen Stirne träufelt.

Die ganze Eigenthümlichkeit Irvings besteht blos darin, daß er, gegen die Vorschrift des Evangeliums, neuen Wein in alte Schläuche gegossen hat. Heiliges und Profanes, Poesie und Prosa, Altes und Modernes, die Mystik des Spiritualism und die Sinnlichkeit des Judaism, die Leidenschaft eines Gerichtsadvokaten, der Dogmatismus der Kanzel, die Uebertreibung des Schauspielers, die Bizarrerie des alten Styls - alles mischt sich bunt durcheinander in der Brust des Einen Mannes; aber der heterogenen Masse verlieh sein Talent den anziehenden Reiz der Neuheit und Ueberraschung. Gerade der lebendige Widerspruch der Gegensätze es, was jenen Zauber hervorbringen mußte. Die kleine Zahl wirklich Frommer beklagte sich über die Profanation des heiligen Orts, der auf einmal zum Theatersaale, zum Cirkus, zur Arena, zur Akademie geworden war; aber diese wenigen Stimmen verloren sich in dem Beifallszuruf der Menge, mit dem sie Ivring in seinem triumphirenden Zuge begrüßte.

Einen Kanzelredner gegen Jeremias Bentham zu Felde ziehen zu sehen, ist eine ganz neue Erscheinung. Sein Auge schweift über den engen Kreis seiner kleinen Versammlung hinaus, es dringt bis in das Heiligthum des Moralisten und Rechtsgelehrten, und entdeckt dort den gefährlichen Feind seines Glaubens. Die Schöngeister werden aufmerksam, die Philosophen erstaunen, die Gelehrten treten unter Waffen, ganz London ist in Bewegung. Der gewandte geistliche, Kämpfer gönnt den Erstaunten keine Zeit wieder zu sich selbst zu kommen: er wirft sich auf Brougham, Canning, Coleridge, Liverpool, wie ein Raubvogel, der sich auf ein Nest voll Staaren stürzt.

Selbst diejenigen, welche fürchten, er werde sie angreifen, mischen sich unter die Menge, und hören geduldig die theologischen Sarkasmen mit an, mit denen der Apostel sie überschüttet. Um Gleichgültigkeit dagegen zu affektiren kehren sie wieder. Das Publikum ist gespannt, ob die Heftigkeit des Angriffs ihre Kühnheit überwinden wird, oder ob sie selbst unter dem Feuer der Batterien ihre Kaltblütigkeit bewahren werden. Man sieht die Kämpfe mit demselben Interesse, mit welchem man einen schönen Kavallerieangriff betrachten würde, der mit Präcision ausgeführt und mit Muth abgeschlagen wird.

Andere Prediger begnügen sich mit dem Vertheidigungskriege, Irving aber ergreift die Offensive. Ohne Patent und Licenz verwandelt er die calvinische Kirche in einen politisch-philosophischen, religiös-moralischen Clubb, dessen Präsident und einziger Sprecher er selbst ist. Andere schmeicheln dem Publikum, Jrving insultirt es. Er übt auf uns eine ähnliche Macht aus, wie Pietro Aretino einst auf die Fürsten, deren Schwäche seiner satyrischen Feder einen Tribut bezahlte. Mit kecker Hand zerbricht er die Idole, die man am meisten verehrt. Politiker, Moralisten, Schriftsteller, Kritiker, Journalisten, Schauspieler, Poeten, Staatsmänner, Machthaber – Niemand verschont er. Weder Titel noch Rang, weder Stand noch Würde, weder die zarten noch die schönen und glänzenden Seiten des Lebens finden Gnade vor seinen Augen. Möge alles in den Staub sinken! möge der Blitz des göttlichen Zorns die Paläste der Großen, die Tempel des Reichthums und des Vergnügens in Asche verwandeln. Verworfenes Jahrhundert, zittre! gehe in dich! mit eigner Hand zerschlage dein Werk! und mitten in diesem großen Sturze der entarteten Civilisation achte Niemand als Herrn Irving, den Boten des Verderbens, ihn der allein aufrecht steht unter den Trümmern.

Allen Künsten und Wissenschaften, den Hoffnungen wie den Erinnerungen, unsern Lastern wie unsern Tugenden erklärt er den Krieg. Nichts bleibt übrig als die schottische Kirche , und an ihrer Spitze Irving. Als ein neuer Peter der Eremit will er, daß jede Verbesserung des gesellschaftlichen wie des Privatlebens als ein Verbrechen gebrandmarkt werde; eine tabula rasa fordert er, die Zerstörung Londons, seiner Ateliers , seiner Kanäle, seiner Magazine. Zum Tempel genügt ein Altar von Rasen; umgeben von ein paar schlechten Hütten, aufgebaut auf dem Platze, wo einst die stolze Hauptstadt Englands stand. Zertrümmert, zerstört! und um Gott in der That und in der Wahrheit anzubeten, laßt Irving eine neue Welt aus dem Stegreife schaffen, ein neues Jerusalem, das er im Namen des göttlichen Worts, im Namen des Königs der Himmel hervorruft.

Dieß sind die Wunder, die er durch die Allgewalt seiner Reden bewirken will. Ist es noch auffallend, daß ein Mann, der den Sturz alles Bestehenden verkündigt, Aufsehen in der Welt erregt hat? Schreibt ein Doctor von Edinburg irgend ein neues Werk über Moral oder Politik so denuncirt er es sogleich als unmoralisch; erhebt sich ein neues Theater, so speut er Feuer und Flammen; wird eine Brücke gebaut oder ein Tempel vollendet, so donnert sein Zorn über die Eitelkeit der Welt. In verlassene Wälder, in die heilige Stille der Felsen des schottischen Hochgebirgs verweist er die Religion. Ferne von den bewohnten Städten liegt die Möglichkeit des ewigen Heils. Und doch bewohnt er selbst diese Stadt, ohne daß sein Enthusiasmus noch verlöscht wäre. Er allein hat das Recht, ohne Gefahr ein Bürger dieses Babels zu seyn. Drängt sich nicht eine lange Reihe von Wappen-Carossen auf dem Wege zu seiner Kirche? Sind es nicht die Schmeicheleien und Liebkosungen der Aristokratie, welche ihn für seine Anstrengungen belohnen? Ist die Hauptstadt, die er verflucht, nicht die Quelle seines Ruhmes? Wer würde von Hrn. Irving sprechen, wenn nicht das Parlament, die


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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_156.jpg&oldid=- (Version vom 20.1.2023)