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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 48. 17. Februar 1828.

Stendhals Reise in Italien.

[1]


Die Berichte des Herrn von Stendhal aus den Salons von Mailand, Bologna, Florenz, Neapel und Rom, waren für uns von um so höherem Interesse, als sie uns, vom Mittelpuncte des gesellschaftlichen Lebens aus, mit der Sitte und dem Geist des italienischen Volks, seinen Vorzügen und Mängeln bekannt machen. Mit der Wahrheit einzelner Thatsachen darf man es bei dem Verfasser nicht zu genau nehmen, wie er z. B. in Ulm (seine Reise geht von Berlin über Ulm und München nach Mailand) den Schwarzwald, und im September Tannen sieht, deren düsteres Grün einen schönen Contrast zu der blendenden Weiße des Schnees bildet; daß ihm aber die Schneepartien kein Vergnügen mehr gewähren, wird man ihm glauben, wenn er anders wirklich den Feldzug nach Moskau mit gemacht hat, wie er versichert. Abgesehen von dieser historischen Leichtfertigkeit findet man in dem Verfasser einen jungen wohlunterrichteten Franzosen, höchst liebenswürdig, voll munterer Laune, einen feinen Beobachter und Weltkenner, dessen Urtheile über Deutsche und Engländer viel Absprechendes und Einseitiges enthalten, dem es aber in Italien so wohl gefällt, daß er sein Paris darüber fast vergißt. Man darf indessen nicht meinen, daß ein Franzose von der Generation der letzten Jahrzehende alle Dinge von der leichten Seite auffaßt; der ernste Charakter der Revolution hat aus den zierlichen Geschöpfen der Periode Ludwigs XV denkende Männer gemacht. Bei aller Vorliebe des Verfassers für die Italiener ist er kein blinder Verehrer und Lobhudler derselben, so wie ihn auch das Land mehr von Seiten seines jetzigen Zustandes, als seiner großen historischen Erinnerungen anzieht, während die meisten Reisenden der Gegenwart fremd, und folglich gegen die Lebenden ungerecht sind, indem sie überall nur eine untergegangene Heroenwelt anstaunen, gegen welche das jetzige Menschengeschlecht klein und zwergartig erscheint. Wir begleiten Herrn von Stendhal, und werden ihn meist selbst reden lassen. Das Theater della Scala in Mailand ist das Propyläon, durch welches er uns in die Herrlichkeiten Italiens einführt. Hier, sagt er, befindet man sich im Salon der Stadt; außerhalb desselben giebt es keine Gesellschaft. „Wir sehen uns in der Scala!“ heißt es bei allen Gelegenheiten. Das Theater faßt 3500 Zuschauer; keine einzige Lampe hängt im Saal; die ganze Beleuchtung geht von der Bühne aus. Die Einbildungskraft kann sich nichts größeres, prächtigeres, imposanteres, überraschenderes vorstellen; wer einmal hier gewesen, dem kann kein Theater der Welt mehr gefallen; es ist für die Musik gemacht. Man kann in Mailand zwei, dreimal (!) nach einander Mozart’sche Opern hören, und die Musik von Solliva erinnert in jedem Augenblick an Mozart. Aber seine Testa di Bronzo ist ein Werk des Genies: diese Wärme, dieses dramatische Leben, diese Sicherheit in allen Wirkungen konnte ihm Mozart selbst nicht geben (?); als ein Bewunderer Mozarts trägt er seine Farbe; hätte er wollen Cimarosa seyn, so wäre er ein neuer Cimarosa. Die Musik ist die einzige Kunst, die noch in Italien lebt, die noch etwas von jenem schöpferischen Feuer besitzt, welches die Brust eines Dante, Raphael, Cimarosa durchdrang.

Canova und Alfieri sind isolirte Erscheinungen, wie sie die Urkraft der Natur unter diesem schönen Klima zuweilen noch jetzt hervorbringt. Alle Genüsse der Seele, außer denen der Musik, sind eingeengt; das Mißtrauen erstickt die Freundschaft; man stirbt aus Schwermuth, wenn man Bürger ist; nur die Musik und die Liebe ertragen keinen Zwang. Die Liebe ist die einzige Leidenschaft, in welcher sich die Falten des italienischen Charakters enthüllen; Ungezwungenheit, Offenheit, Frohsinn sind in ihrem Gefolge; die Musik ist die Kunst, deren Wirkungen man auf den Gesichtern sieht. Fragt man die Italiener, warum sie nicht schreiben, so sagen sie: „Denken ist schon gefährlich; schreiben wäre mehr als Wahnsinn. Hier diese herrliche, wollustathmende Luft: soll man sich der Gefahr aussetzen, daß man in die Eisfelder von München oder Berlin unter diese traurigen Menschen verbannt wird, die kein Glück kennen als ihre Orden und sechszehn Ahnen? Unser Klima ist unser Schatz!“

Italien bekommt keine Literatur, ehe es zwei Kammern bekommt: bis dahin ist alles falsche Bildung, Akademie-Literatur: ein Alfieri hat kein Publikum; zu dem was er war, hat ihn sein Genie gemacht, nicht Italien. Unwissenheit, Faulheit, Wollust herrschen noch zu sehr unter den jungen Italienern, als daß nicht eine lange Zeit vorübergehen müßte, bis man sich dort zur Höhe der Civilisation erhebt. Napoleon führte dahin, vielleicht ohne es selbst zu wissen; er hat der Lombardei und der Romagna den persönlichen Muth gegeben. Die Schlacht bei Raab wurde durch die

  1. Rome, Naples et Florence par M. de Stendhal, Trois. edit.
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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_199.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)