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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 79. 19. März 1828.

Dramatische Literatur der Hindus.

[1]


Wenn unsere Bekanntschaft mit der Literatur sowohl als mit der Geschichte von Indien noch immer, ungeachtet der vereinten Bemühungen einer nicht geringen Anzahl von Gelehrten in England, Frankreich, Deutschland und Dänemark, äußerst unvollständig ist, so dürfen wir den Grund ohne Zweifel nur in der argwöhnischen Politik der Handelsgesellschaft suchen, welche so lange alles, was nur in der entferntesten Beziehung auf ihr Monopol und ihre Herrschaft in Indien gedacht werden konnte, mit eifersüchtiger Strenge bewachte und den Blicken des Profanen entzog. William Jones Uebersetzung der Sakontala, die bald in alle europäische Sprachen überging, gab uns zuerst eine Ahnung davon, wie wunderbare herrliche Blüthen der vor uns verschlossene Garten hege; durch die reiche Lese aus dem Gebiete der dramatischen Literatur, welche das vorliegende, erst im verwichenen Jahre zu Calcutta erschienene Werk von Hayman Wilson, über das Theater der Hindus darbietet, erhalten wir endlich eine klarere Vorstellung von Dingen, die man sich bisher vergebens zu enträthseln gestrebt hatte.

Der Verfasser gibt uns ein Verzeichniß von nicht weniger als sechzig dramatischen Stücken, von denen freilich viele gegenwärtig nur erst dem Namen nach bekannt sind; von diesen sind, außer der Sakontala, noch sechs andere vollständig übersetzt: „Mritschschakati,“ oder der Spielwagen, „Vikrama und Urvasi,“ oder der Held und die Nymphe, „Malati und Madhava,“ oder die heimliche Vermählung, „Uttara Rama Tscheritra,“ oder die Fortsetzung der Geschichte von Rama, „Retnavali“ oder das Halsband und Madra Rakschasa. Von mehreren andern Dramen werden kurze Nachrichten gegeben.

Die Erfindung des Dramas wird durch die Sage einem begeisterten Weisen, Namens Bharata, zugeschrieben; zu einer Zeit, wo das neuere europäische Drama noch in seiner ersten Kindheit war, im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderte, finden wir das von Indien bereits in seinem Verfall begriffen. Der Character desselben ist so romantisch, wie das Land, auf dessen Boden es erblühte; doch ist die Theorie der dramatischen Composition, – was die unbedingten Verehrer des classischen Alterthums sehr überraschen wird, – nichts weniger als vernachlässigt.

Die Schauspiele der Indier scheinen meist, gleich denen des alten Athens, nur für eine einzige Vorstellung geschrieben zu seyn; sie müssen bei ihrer Aufführung wenigstens fünf bis sechs Stunden eingenommen haben; einige von ihnen haben einen Umfang von zehn vollen Acten. Der Dialog ist gewöhnlich in Prosa, während die lyrischen Flüge des Dichters in regelmäßigen Versen sind. In diesen poetischen Stellen werden alle Versmaaße, welche die Sprache kennt – von Anuschtubh, oder der Strophe von vier Zeilen zu acht Sylben, zum Dandaka, welches 25 bis 199 Zeilen hat, angewendet. Eigenthümlich ist, daß die Helden und Heldinnen, Diener, Kaufleute, Spitzbuben etc. in verschiedenen Dialecten sprechen, von denen indessen gewöhnlich nur drei gebraucht werden. – Eigentliche Theater scheinen in Indien niemals errichtet worden zu seyn. Ein Saal in den Häusern der Großen, Sangita Sala genannt, worin Musik gemacht und getanzt wurde, war wahrscheinlich der Platz, dessen man sich bediente; vielleicht auch, bei dem schönen Clima, die offenen Höfe. Doch hatte man eine Bühne mit einem Schirm oder Vorhang. Die Schauspieler wurden nie als Leute von üblem Ruf, oder als Vagabunden betrachtet, wie früher in Europa. Sie werden als persönliche Freunde der Dichter, wie die letzten als Freunde und Gesellschafter von Weisen und Königen genannt. Das Schauspiel diente überdieß nicht blos zum Vergnügen oder zur Unterhaltung der Zuschauer, sondern bildete einen wesentlichen Theil der religiösen Feste.

Wir wollen von einem der von Wilson übersetzten indischen Dramen, Retnavali, das weniger mythologische und andere gelehrte Vorkenntnisse erfordert, um von Fremden verstanden zu werden, aber freilich auch weniger Originalität besitzt als die übrigen, unsern Lesern einen Auszug mittheilen. Als Verfasser wird genannt Sri Herscha Deva, ein König von Kaschmir zwischen 1113 und 1125 nach Christi Geburt; seine Sprache ist elegant und deutet auf eine Zeit hin, in welcher die Ausbildung und Feinheit der Kunst das natürliche Feuer des Genies zu verdrängen begann.

Wie gewöhnlich eröffnet das Stück eine Art Weihe, statt des Prologs; dann tritt der Schauspieldirector vor, nennt den Fürsten als den Verfasser und gibt der Versammlung

  1. Select specimens of the Theatre of the Hindus, translated from the original Sanscrit. By Horace Hayman Wilson, Esq. Calcutta. 1827. 8°, 3 vols.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_327.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)