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Das Ausland. 1,2.1828

ich gesehen habe, waren recht gute Menschen, daher müssen die übrigen, welche ich nicht gesehen habe, um so schlechter seyn.

Freilich ein Besipiel patriarchalischer Einfalt, wie das, auf welches sich die eben angeführte Bemerkung bezieht, möchte nicht blos in Italien, sondern wohl in der ganzen cultivirten Welt selten zu finden seyn: „Am Fuße des Monte Rosa, erzählt Simond, im Distrikt von Varallo (Lombardei) liegt Alagna, eine Gemeinde von zwölfhundert Seelen, worin seit vierhundert Jahren nicht ein einziger Civil- oder Criminalproceß, oder selbst nur eine Verhandlung vor einem Notar vorgekommen ist. In den seltenen Fällen eines Fehltrittes oder schwereren Vergehens war der Schuldige gezwungen, sogleich sich zu entfernen. Einesmals befand sich ihr Pfarrer in diesem Fall, und während eines vollen Jahres, daß sie eines Seelsorgers entbehrten, hielt einer ihrer Aeltesten zu den gewöhnlichen Stunden des Gottesdienstes das Gebet in der Kirche. Die väterliche Gewalt ist unumschränkt; sie dauert das ganze Leben hindurch und der Vater verfügt über sein ganzes Vermögen nach Gutdünken, ohne schriftliches Testament, da die mündliche Erklärung seines letzten Willens immer beachtet wird. Vor kurzem starb ein Einwohner von Alagna und hinterließ sein für dieses Gegenden beträchtliches Vermögen (100,000 Lire) einem andern als seinem natürlichen Erben. Dieser begegnet nicht lange darauf in der benachbarten Stadt einem Advokaten von seiner Bekanntschaft und hört von ihm, daß die Gesetze, welche das Gewohnheitsrecht von Alagna nicht anerkennten, ihn bald – wenn er wollte – in Besitz der Erbschaft setzen würden, der er auf so harte Weise beraubt worden sey. Der Advokat bot zugleich seine Dienste an, die anfangs abgelehnt wurden; in der Folge verstand sich jedoch der enterbte Sohn dazu, die Sache näher zu überlegen. Drei Tage sah man ihn darauf unruhig und in Gedanken, beschäftigt – wie er seinen Freunden sagte – mit einer wichtigen Angelegenheit. Endlich ließ er den dienstfertigen Advokaten holen und sagte ihm einfach; „Das, was ihr mir vorschlagt, ist niemals bei uns geschehen und ich will der nicht seyn, der zuerst das Beispiel dazu gibt.“ – Die Untreue in der Ehe ist zu Alagna unbekannt, wenn auch vor ihrer Verheirathung die Frauenzimmer nicht immer keusch sind. Aber es ist nicht selten, daß sie einen Mann finden, der das Kind einer früheren unglücklichen Liebe statt des seinigen annimmt. Mitten unter allen den Umwälzungen, welche Italien seit zwanzig Jahren verheert (?) haben, haben diese Leute ihre alten Sitten und Gebräuche unverändert behalten. Als die Conscription sie traf und sie nicht dienen wollten, machten sie eine gemeinschaftliche Casse, um sich Stellvertreter zu verschaffen und stellten sich selbst nur in der äußersten Noth. Alle, welche das Schwert verschont hat, sind seitdem wieder zu ihrem Heerd zurückgekehrt; und selbst einen ausgezeichneten Arzt, der lange im Auslande gelebt hatte, sah man diesem Beispiele folgen. Zwei sehr alte Hochzeitkleider, das eine für den Bräutigam und das andere für die Braut, werden im Gemeindehause aufbewahrt, und die, welche sich verheirathen, arm oder reich, bedienen sich derselben für die Ceremonie der Trauung.“ Simond glaubte in der schönen länglichen Physiognomie der Bewohner von Alagna eine gewisse Familienähnlichkeit mit den Berner Oberländern zu erkennen, was ihm auf eine gemeinschaftliche Abstammung hinzudeuten schien; wie er dieß aber auch durch den Dialect bestätigt finden konnte, ist uns nur durch seine vermuthliche Unkenntniß desselben erklärlich.

Eine besondere Aufmerksamkeit hat Simond der Sitte zugewendet, die man diesseits der Alpen das Cicisbeat zu nennen pflegt. In Italien ist diese Benennung so ungewöhnlich, als – wenn man der Versicherung der Italiener glauben soll – die Sache selbst, wenigstens da, was man sich im Norden darunter denkt.

„Sobald ein Ehemann in Italien einen oder ein Paar Söhne hat, – sagte Simond zu einem Florentiner, – wird er ungeduldig, seine gewohnte Freiheit wieder zu erhalten, und er gesteht dieselbe eben so stillschweigend seiner jungen Gemahlin zu, indem er sie fern von seinen Augen allen Verführungen blosstellt, denen sie, wie er wohl weiß, in einer Welt ausgesetzt ist, die er besser kennt als sie. In der Folge kommen Mann und Frau mit einander überein, jeden seinerseits seinen Neigungen ohne allen Zwang und Rückhalt nachgehen zu lassen. Wenn sich Streitigkeit zwischen der Dame und ihrem Cavaliere servente – denn dieß ist der Name, der an die Stelle des längst veralteten Cicisbeo getreten ist – erheben, so geschieht es nicht selten, daß der nachsichtige Gemahl sich einmischt, um die Aussöhnung zu bewirken und dabei selbst zu Gunsten des häuslichen Friedens und der Gerechtigkeit von seiner ehelichen Autorität Gebrauch macht, wenn er den Freund gemißhandelt glaubt. Bei einer solchen Lage der Dinge können die Kinder, nach dem erstgebornen, dem nicht besonders am Herzen liegen, der für ihren Vater gilt, und es ist daher natürlich, daß sie im höchsten Grade vernachlässigt werden. Die Töchter, im Kloster erzogen, bleiben darin und nehmen den Schleier aus Unzufriedenheit und Langeweile, wenn es den Eltern nicht gelingt, einen Mann für sie zu finden, was das Resultat von Unterhandlungen ist, bei denen nur das Interesse zur Grundlage dient. Die jüngeren Söhne leben von ihrem Pflichttheil und werden Priester oder Cavalieri serventi, ohne sich je zu verheirathen, und es findet sich selten, daß sie so viel Entschlossenheit haben, auswärts ihr Glück zu suchen. Die Ehe ist nie die Folge wechselseitiger Zuneigung; und da Alter wie Geschmack beider Theile verschieden sind, ist Liebe in der Ehe etwas unerhörtes. Die Weiber, welche aller Geistesbildung entbehren, können sich mit nichts beschäftigen, als mit Stadtklatschereien; der einzige Gegenstand ihrer Unterhaltung sind die Herzensangelegenheiten ihrer Bekannten, ohne daß sich indessen dabei die geringste Bosheit (malice) oder auch nur Plaisanterie zeigte. Dieß ist vielmehr eine Sache, mit der man sich auf das ernsthafteste beschäftigt und worin man nichts Lächerliches findet. Sie machen sich gegenseitig Condolenz-Besuche wegen des Verlustes eines Cavaliere servente.

Der Italiener antwortete: „Ein cavaliere servente ist nichts anders als ein amico della casa, (Hausfreund)

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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_349.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)