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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 107. 16 April 1828.

Simond’s Reise in Italien.



Zweiter Artikel.

Wenn wir das Selbstbewußtseyn als gleichbedeutend mit dem geistigen Leben und Seyn überhaupt betrachten dürfen – und dazu haben wir allerdings das Recht, da derjenige Theil unseres Seyns, welcher uns nicht zum Bewußtseyn kommt, natürlich keiner Betrachtung, also auch keiner Berechnnung unterliegen kann; so müssen wir wieder als den Kern und den innigsten Inhalt unseres Seyns die Erkenntniß des Schönen und Guten in uns, die Anerkennung und Behauptung unseres eigenen innern Werthes betrachten; und dieß ist das, was wir Ehre (honor, honestas) nennen. Zwar versteht man gewöhnlich unter Ehre nur jene Caricatur derselben, die den wahren Besitz geistiger Schönheit auf sich beruhen läßt, und nur den äußern Schein und die Voraussetzungen derselben von Fremden verlangt; aber jeder Lüge liegt ein Theil des Wahren zum Grunde, da der Irrthum selbst nur mangelhafte Erkenntniß der Wahrheit ist; und so ist auch jene Scheinehre mit allen den Verirrungen, zu denen sie führen muß – indem sie nicht in, sondern außer uns unsern Mittelpunkt setzt – doch nichts anderes, als die mangelhafte zeitliche Form, in welcher sich die vollkommene, ewige Idee der wahren Ehre kund gibt. Jeder Mensch trägt in seiner Seele die Abdrücke oder die Keime – wie wir es nennen wollen – aller göttlichen Ideen; denn das Unendliche – der Geist – ist untheilbar, und in jedem geistigen Wesen ist daher der ganze Geist und nicht etwa bloß ein Theil oder einzelner Ausfluß desselben. Jeder hat gleiche Ansprüche auf Anerkennung seines Werthes; und wenn wir dennoch gezwungen sind, einen Unterschied zwischen den einzelnen Individuen anzunehmen, so kann sich dieser nicht auf den geistigen Werth an sich, sondern nur auf die festere, kräftigere oder schwächere Behauptung desselben beziehen. Der höchste Ruhm des Menschen ist daher die Tapferkeit (virtus), oder die Kraft, mit der er seine Ehre, die Anerkennung seines Werthes behauptet; die tiefste Schmach die Feigheit, oder die Schwäche, welche, ungerecht gegen sich selbst, ihre Ansprüche auf jene Anerkennung aufgibt.

Wir glauben, nachdem wir diese Bemerkungen vorausgeschickt haben, kein Mißverständniß befürchten zu dürfen, wenn wir die unbedingte Verachtung eines einzelnen Individuums, und noch vielmehr als eines ganzen Volkes unter allen Umständen für ungerecht erklären, und selbst die Ausflucht zurückweisen, mit der man gewöhnlich diese Inhumanität zu beschönigen sucht: daß freilich jeder schlechte Mensch auch noch seine guten Seiten habe, und jedes noch so schlechte Volk ausnahmsweise einzelne ganz vortreffliche Individuen in seiner Mitte zähle. Es gibt keine absolut schlechten Menschen und keine schlechten Völker; aber es gibt Zustände, in denen der Mensch die Kraft verliert, das ihm angeborene Schöne und Gute äußerlich zur Erscheinung zu bringen, es gibt Lagen, in welchen das einem Volke inwohnende Gute zurückgedrängt und unterdrückt werden muß; daher gibt es tapfere und feige Menschen, tapfere und feige Völker.

Streng unterscheiden müssen wir aber von der Tapferkeit, die nur standhafte Behauptung des individuellen Werthes ist, unter allen Umständen, welche denselben gefährden könnten, jene Bereitwilligkeit zur Selbstaufopferung, die in der Unterordnung und Hingebung der Persönlichkeit für ein höheres Ganze besteht. Ein Volk kann die ausgezeichnetste moralische Kraft oder Tapferkeit besitzen, ohne deshalb der Aufopferung fähig zu seyn; und umgekehrt sehen wir Nationen, die auf einer Stufe der Bildung stehen, auf welcher von einer höhern Entwicklung der moralischen Kraft nicht die Rede ist, die größten Opfer der Hingebung bringen. Können wir es Tapferkeit, in unserem Sinne, nennen, wenn der Russe sich z. B. in der Schlacht von Zorndorf auf seinem Posten ohne Gegenwehr niedermetzeln ließ, um das Gebot des Feldherrn nicht zu verletzen? Aber eben so dürfen wir auch fragen: ist es Feigheit, wenn der Italiener sich nicht aufgefordert fühlt, für eine Sache zu fechten, die ihm fremd ist, die keine Bedeutung für ihn hat? Dieselben Lazzaroni, die den Truppen der französischen Republik den Besitz von Neapel drei volle Tage lang streitig gemacht hatten, weil sie Ketzer – Feinde des heil. Gennaro, ihrer Religion und Sitten in ihnen sahen, zeigten sich beim Einmarsche der Oesterreicher im Jahr 1821 als gleichgültige Zuschauer; waren sie deshalb seit jener Zeit etwa feige geworden?

Feigheit ist der Mittelpunct aller jener Schwächen, die man gewöhnlich unter dem Ausdruck der moralischen Schlechtigkeit zusammenfaßt; es ist daher nicht zu verwundern, wenn bei den sehr verschiedenartigen und oft einander widersprechenden Klagen der Fremden über die Erbärmlichkeit der Italiener, – indem der eine ihnen Hang zur Liederlichkeit und zu Ausschweifungen, der andere Habsucht und Geiz, der eine knechtische Unterwürfigkeit und Falschheit, der andere Hochmuth und ungezähmte Rachsucht


Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_443.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2023)