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Das Ausland. 1,2.1828

begeben sie sich zum Theil nach den wasserreichern Gegenden an der Kuma und in den Schilfwäldern der Küsten des kaspischen Meers oberhalb Kislar. Man schätzt ihre Gesammtanzahl auf 20,000 Zelte oder Familien.

Obgleich seit Iwan Wasiljewitsch II. (1549-84) russische Unterthanen, sind die Kalmücken den Sitten und der Religion ihrer Väter treu geblieben. Sie leben unter ihren Stammfürsten, mit Ausnahme der Baganzohcher und der Erkeden, bei denen drei bis vier Saißangs (Edelleute), von ihnen selbst gewählt, die sie nach Befinden absetzen können, das Regiment führen. Bei jeder Horde befindet sich ein Beamter der Krone, Pristaw genannt; eine Central-Behörde, das Organ der Regierung zum und vom Volke, bildet die Naima-Sarga, d. i. das Gericht der acht Richter, welche als Deputirte der Horden, unter dem Vorsitz des Oberpristaws, in öffentlichen Versammlungen, denen die Saißangs und die Aeltesten des Volks beiwohnen, Recht sprechen. In ihren innern Verhältnissen genießen die Kalmücken große Freiheiten, welche die Regierung nicht so leicht antastet, wahrscheinlich weil sie fürchtet, diese unbotmäßigen Nomaden möchten dem Beispiel der großen Horde folgen, die im Jahr 1771 nach China’s Grenzen entwich. [1] „Indessen glaubte man, als wir unter ihnen reisten, ihre etwas gar zu selbstständige Verfassung dürfte wie die der Kosaken [2] nach und nach Modifikationen erleiden.“ Es war nehmlich seit einigen Jahren unter der Mehrzahl der Stämme eine Fehde ausgebrochen, wobei es zu großen Ausschweifungen und zu blutigen Scenen kam. Der Fall war einfach dieser. Ein Stammfürst hatte seine Gemahlin, die Schwester eines andern Stammfürsten, wegen begangener Untreue verstoßen und ihrem väterlichen Stamme zurückgeschickt, ihre Mitgift aber zurückbehalten. Die darüber entstandene Feindschaft theilte sich, indem das Volk die Sache seiner Fürsten zu der seinigen machte, den beiden Horden, und – bei der in einander greifenden Verwandtschaft der fürstlichen Familien – mehreren andern Horden mit, so daß zuletzt fast alle gegen einander standen. Nachdem die Regierung, um die streitenden Parteien zu versöhnen, den Weg der Güte vergebens eingeschlagen hatte, berief sie ihre Pristaws aus allen Horden und schien entschlossen, ernsthaftere Maßregeln zu ergreifen.

Die Hoffnung, das Christenthum unter den Kalmücken eingeführt zu sehen, ist äußerst gering. Zwar hatte die heilige Synode zu Petersburg schon im Jahre 1724 den Beschluß gefaßt, daß zu ihrer Bekehrung und Aufnahme in den Schoos der Landeskirche Anstalten getroffen werden sollten; es blieb aber bei dem bloßen Beschluß. Ja es lag im Interesse der griechisch-russischen Geistlichkeit, Bekehrungs-Versuche von Seiten anderer Confessionen zu verbieten. Ungeachtet wir beiden Herrnhuter in Angelegenheiten der Bibelgesellschaft des Reichs reisten und mit Beglaubigungsschreiben von dem Grafen Nesselrode versehen waren, hatten wir den ausdrücklichen Befehl, bloß Bibeln zu vertheilen, und nicht zu lehren.

Zwei Hindernisse sind es hauptsächlich, die der Verbreitung eines neuen Glaubens daselbst im Wege stehen, einmal die Furcht der Kalmücken, man möchte sie bloß zu Christen machen, um sie nachher desto eher zu Sklaven machen zu können, und dann der Einfluß einer zahlreichen regelmäßig organisirten Geistlichkeit.


(Fortsetzung folgt.)

Tunis.


(Schluß.)

Von den Leidenschaften, welche dieses Volk beherrschen, ist keine tiefer eingewurzelt, als seine Rachsucht.


  1. So war es die Besorgniß, in russische Bauern verwandelt zu werden, welche bei der Eroberung der Halbinsel Krym 300,000 Tartaren zur Auswanderung veranlaßte. In der That traf die Zurückgebliebenen jenes Schicksal, d. h. sie wurden von Catharina II als glebae adscripti an russische Herren verschenkt, und damit war der Wohlstand des neuen Landes vernichtet. Man vergl. Relation d’un voyage sur le bord septentrional de la mer d’Azof et en Crimée, par le comte des Castres, Paris 1826. Die russische Regierung scheint übrigens neuerdings die Grundsätze einer weisern Politik zur Richtschnur zu nehmem.
  2. Die Verfassung der Kosaken (richtiger Kasaken) war lange Zeit beinahe ganz republikanisch. Die Kasaken vom Jaik (gegenwärtig, seit 1775, vom Ural), hatten schon lange (seit 1655) in den russischen Heeren gedient, als sie noch ihre Anführer selbst wählten und absetzten, als sie noch die peinliche Rechtspflege besaßen und ihre Angelegenheiten in allgemeinen Volksversammlungen beriethen. Der Attaman wagte nichts Bedeutendes für sich zu thun. Empfing man eine Ukase vom Czar, oder handelte es sich um eine kriegerische Unternehmung, so gab man mit der großen Glocke der Gemeinde das Zeichen zur Versammlung. Der Attaman, den großen Commandostab mit goldenem Knopf in der Hand, trat auf; sodann erschienen die Yassauls, d. h. Herolde, legten ihre Stäbe und Mützen mitten in der Versammlung nieder, sprachen ein Gebet und begrüßten den Attaman und das Volk umher. Nach dieser Ceremonie, die immer gewissenhaft beobachtet wurde, traten sie vor den Chef, empfingen seine Befehle und legten sie der Versammlung mit den Worten vor: „Hört still zu, ihr tapfern Attamannen, und du große Armee vom Jaik.“ Hatte man nun die Sache dem Volk auseinander gesetzt, so fragten sie: „Seyd ihr damit einverstanden, brave Krieger?“ Die Antwort war ja oder nein; im letztern Fall versuchte der Attaman das Volk von der Annehmbarkeit des Vorschlages zu überzeugen. Waren die Kasaken mit seinem sonstigen Benehmen zufrieden, so fanden seine Vorstellungen leicht Eingang, wo nicht, so achtete Niemand darauf und der Wille des Volks siegte. Peter I begann, Katharina II vollendete die Reform der Kasaken, welche darin bestand, daß man ihnen ihre Freiheit entzog. Coup d’oeil sur l’histoire des Casaques de l’Oural par M. de Lewchine, Conseiller de Cour de S. M. l’Empereur de Russie, im Journal Asiatique 1827.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_464.jpg&oldid=- (Version vom 26.4.2023)